Frauen fällt es leichter als Männern, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Gefühle und Gedanken zu erahnen, wie eine Studie nun bestätigt. Demnach ist diese weibliche Empathie-Neigung ein internationales Phänomen, das die Forschenden in 57 Ländern beobachten konnten. Als Erklärung kommen sowohl biologische als auch soziale Faktoren in Frage. Ein weiteres Ergebnis der Studie: Ungeachtet des Geschlechts nimmt die Fähigkeit zur Perspektiv-Übernahme im Alter ab.
Manche Menschen sind empathischer als andere. Aber warum ist das so? Ein Zehntel der Empathie-Fähigkeiten wird durch die Gene bestimmt, der Rest unterliegt anderen Faktoren wie zum Beispiel der Sozialisation. Denn wir müssen Empathie zunächst erlernen. Sich in die Gedanken, Perspektiven und Gefühle eines anderen hineinversetzen zu können, wird in der Wissenschaft „Theory of Mind“ genannt. Bisherige Studien legten bereits nahe, dass Frauen diese Fähigkeit im Schnitt besser beherrschen als Männer. Allerdings nahmen an diesen Untersuchungen meist nur wenige Testpersonen teil und diese waren außerdem weder kulturell noch vom Alter her sonderlich divers.
Schau mir in die Augen, Kleines
Auf der Suche nach allgemeingültigen Geschlechtsunterschieden bei der Empathie haben Forschende um David Greenberg von der University of Cambridge nun eine groß angelegte, internationale Erhebung durchgeführt. Über 300.000 Menschen aus 57 Ländern im Alter von 16 bis 70 Jahren nahmen daran teil und absolvierten den sogenannten „Reading the Mind in the Eyes“-Test (kurz: Eyes-Test).
Mithilfe des Eyes-Tests lässt sich herausfinden, wie gut einzelne Personen sich in andere hineinversetzen können. Dafür bekommen sie 36 Bilder von menschlichen Augenregionen vorgelegt und müssen jeweils entscheiden, welches von vier nebenstehenden Wörtern am besten beschreibt, was die Person auf dem Bild gerade denkt oder fühlt.
Frauen im internationalen Vergleich empathischer
Das Ergebnis: In allen 57 Ländern schnitten die Frauen beim Eyes-Test deutlich besser als die Männer oder zumindest ähnlich wie sie ab. In keinem Land übertrafen die Männer die Frauen in diesem Test auf die Theory of Mind. „Unsere Ergebnisse sind einer der ersten Belege dafür, dass das bekannte Phänomen, dass Frauen im Durchschnitt empathischer sind als Männer, in einer Vielzahl von Ländern auf der ganzen Welt zu beobachten ist“, sagt Greenberg.
Der Geschlechterunterschied bestand in jeder der untersuchten Altersklassen, wobei die Wissenschaftler sowohl bei Männern als auch bei Frauen im Alter von 20 Jahren einen Leistungs-Höhepunkt im Eyes-Test beobachteten. Im späteren Erwachsenenalter – bei Frauen ab 50 und bei Männern ab 58 Jahren – geht die Trefferquote langsam zurück. Das legt laut Forschenden nahe, dass der Empathie-Score womöglich auch unter hormonellem Einfluss steht.
Doch nicht nur das Alter, sondern auch die Herkunft der Studienteilnehmer wirkte sich auf ihr Test-Ergebnis aus. „Insgesamt scheint sich der durchschnittliche weibliche Vorteil im Eyes-Test in fortschrittlicheren und westlicheren Ländern zu verringern“, berichten Greenberg und seine Kollegen. Das könnte sich durch Ergebnisse früherer Studien erklären lassen, laut denen Personen mit niedrigem Sozialstatus sich mehr um die Gedanken und Gefühle anderer kümmern als Menschen mit hohem Status.
Woher kommt die Empathie-Lücke?
Aber warum sind Frauen anscheinend generell empathischer als Männer? Greenberg und seine Kollegen können diese Unterschiede anhand der gesammelten Daten zwar nicht vollends erklären, doch sie haben verschiedene Hypothesen, die sowohl biologische als auch soziale Faktoren beinhalten. So wurde in der Vergangenheit bereits beobachtet, dass höhere (pränatale) Testosteron-Werte mit schlechteren Ergebnissen im Eyes-Test in Verbindung stehen. Da Männer mehr Testosteron besitzen als Frauen, könnte das die Unterschiede zumindest teilweise erklären.
Doch auch soziale Faktoren wie die unterschiedlichen Rollenerwartungen an Männer und Frauen könnten in Frage kommen. Da das klassische Frauenbild emotionales und das Männerbild rationales Verhalten vorsieht, könnten bereits Kinder in diese Rollenvorstellungen hineinwachsen und sich bemühen, ihnen zu entsprechen.
Zusammenfassend vermuten Greenberg und sein Team, „dass die frühen Geschlechtsunterschiede auf biologische Faktoren zurückzuführen sind, aber durch soziale Faktoren aufrechterhalten oder verstärkt werden.“ (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2022; doi: 10.1073/pnas.2022385119)
Wer herausfinden will, wie ausgeprägt die eigene Empathie ist, kann das unter folgendem Link testen: www.yourbraintype.com
Quelle: University of Cambridge