Von wegen alles geraubt: Als die „Große Wikingerarmee“ im Jahr 865 in England einfiel, waren die Nordmänner nicht allein. Sie hatten Pferde und Hunde aus ihrer skandinavischen Heimat dabei, wie Isotopenanalysen von Tierknochen aus Wikingergräbern in Großbritannien enthüllen. Dies ist der erste Beleg dafür, dass Wikinger die Pferde für ihre Eroberungszüge nicht nur vor Ort raubten, sondern sich auch selbst Reittiere mitbrachten, wie die Archäologen im Fachjournal „PLoS ONE“ berichten.
Vor gut tausend Jahren dominierten die Wikinger die Küsten und Meere Mittel- und Nordeuropas. Mithilfe ihrer Schiffe schufen sie ein weitreichendes Netz von Siedlungen und Handelsbeziehungen, gleichzeitig waren sie für ihre Raubzüge und Plünderungen gefürchtet. Im Jahr 865 machten die Nordmänner dann ernst: Nachdem sie zuvor immer nur kurze Raubzüge unternommen hatten, landeten sie nun mit einer ganzen Armee an der Ostküste Englands.
Grabhügel der Großen Wikingerarmee
Fast 20 Jahre lang lieferte sich die „Große Wikingerarmee“ erbitterte Kämpfe mit den angelsächsischen Einheimischen und drang immer weiter ins Landesinnere vor. „Diese neue Armee blieb länger und überwinterte im Herzen Englands“, berichten Tessi Löffelmann von der Durham University in Großbritannien und ihre Kollegen. „Die Wikinger hatten ihre Strategie geändert: Von der Suche nach schnellen, mobilen Reichtümern zum Versuch, Land für eine dauerhafte Besiedlung zu erobern.“
Ein Winterlager der Wikingerarmee lag im mittelenglischen Repton. Dort zeugen 59 Grabhügel und mindestens ein Massengrab davon, dass die Wikinger dort im Jahr 873 bis 874 lagerten und auch ihre Gefallenen dort bestatteten. Um mehr über die Herkunft und Lebensweise der dort lagernden Wikinger zu erfahren, haben Löffelmann und ihre Kollegen Strontium-Isotope in Proben von zwei Erwachsenen, einem Kind und drei Tierskeletten untersucht, die in den Wikingergräbern gefunden wurden.
Das Element Strontium kommt überall in Wasser, Böden und Pflanzen vor, wird mit der Nahrung aufgenommen und dann zusammen mit Calcium in Knochen und Zähne eingebaut. Das Verhältnis der verschiedenen Strontium-Isotope ist dabei wie ein lokaler Fingerabdruck, der verrät, wo sich ein Mensch oder Tier längere Zeit aufgehalten hat.
Pferde und Hund aus Skandinavien
Die Analysen ergaben Überraschendes: Alle drei Tiere aus den Wikingergräbern – ein Pferd, ein Hund und möglicherweise ein Schwein – stammten nicht aus England, sondern aus Skandinavien. Obwohl diese Wikinger weit von der Küste entfernt waren und bereits Jahre des Kampfes und der Eroberungsfeldzüge hinter sich hatten, wurden sie demnach von ihren eigenen Reittieren und Hunden begleitet.
Das widerspricht bisherigen Annahmen und auch den historischen Überlieferungen: „Unsere wichtigste Quelle, die Angelsachsen-Chronik, berichtet, dass die Wikinger sich Pferde von der lokalen Bevölkerung in East Anglia raubten, als sie dort anlandeten“, sag Löffelmann. Dies erscheine zunächst auch durchaus plausibel, weil die offenen, schmalen Langboote der Wikinger nicht sonderlich geeignet waren, um Fracht und lebende Tiere über die unruhige Nordsee zu transportieren.
Mitgebracht statt vor Ort geraubt
„Aber offensichtlich war dies nicht die ganze Geschichte“, sagt Löffelmann. Denn wie die Isotopenanalysen nun belegen, brachten zumindest einige Wikinger auch eigene Tiere in ihren Schiffen mit. „Dies ist der erste eindeutige Beleg dafür, dass die Skandinavier die Nordsee im neunten Jahrhundert mitsamt Pferden, Hunden und möglicherweise noch anderen Tieren überquerten“, so die Forscherin.
Wahrscheinlich waren es vor allem die Anführer, die ihre Lieblingspferde und Jagdhunde mit in den Krieg nahmen, so die Vermutung der Archäologen. Dafür spricht das gut ausgestattete Grab, in dem die Knochen eines der erwachsenen Toten und der drei Tiere gefunden wurden. Pferd und Hund wurden offenbar nach dem Tod ihres Besitzers mit dessen Überresten zusammen verbrannt und bestattet. „Das zeigt, wie sehr hochrangige Wikinger ihre persönlichen Pferde und Hunde schätzten“, erklärt Koautor Julian Richards von der University of York.
In der Wikingerarmee kämpften nicht nur Wikinger
Und noch etwas enthüllten die Analysen: Nicht alle mit der Wikingerarmee kämpfenden und überwinternden Menschen waren typische „Nordmänner“ aus Skandinavien. Denn ein Erwachsener und ein Kind aus zwei angrenzenden Grabhügeln erwiesen sich als wahrscheinlich lokaler Herkunft. Die Strontium-Isotopenwerte ihrer Knochen sprechen dafür, dass sie in England, Dänemark oder vielleicht noch dem südlichen Schweden aufgewachsen waren.
„Unsere Studie legt damit nahe, dass in Heath Wood Menschen und Tiere unterschiedlicher Herkunft und Hintergründe bestattet liegen“, erklärt Koautorin Janet Montgomery von der Durham University. „Die große Wikingerarmee könnte demnach aus Menschen aus ganz unterschiedlichen Teilen Skandinaviens und der Britischen Inseln bestanden haben.“ Dazu passt, dass Archäologen auch anderswo schon Wikingerkriegerinnen und -krieger nichtskandinavischer Abstammung gefunden haben. (PLoS ONE, 2023; doi: 10.1371/journal.pone.0280589)
Quelle: Durham University