Neue Angststörung: Exzessive Smartphone-Nutzung kann bei anfälligen Menschen eine Nomophobie auslösen – die übersteigerte Angst vor Handyausfall und dem Nichterreichbar-Sein. Wie nun eine Studie aufdeckt, ist diese „No Mobile Phone Phobia“ auch in Deutschland verbreitet: Fast die Hälfte aller Teilnehmenden wies ein mittleres Maß an Nomophobie auf, gut vier Prozent litten sogar unter einer schweren Form dieser übersteigerten Angst, wie Forscherinnen im Fachjournal „PLoS ONE“ berichten.
Ob als Telefon, zum Internetsurfen oder für den Austausch über soziale Medien und andere Plattformen: Smartphones sind aus unserm Leben kaum mehr wegzudenken. In Deutschland nutzen 78 Prozent der Bevölkerung ein Handy, im Schnitt ist dieses fast vier Stunden täglich im Einsatz. Dank der Smartphones sind wir überall erreichbar, können uns Langeweile mit Spielen vertreiben oder auch nützliche Dinge damit tun wie Bezahlen, Recherchieren oder unseren Alltag planen.
No Mobile Phone Phobia
Doch die exzessive Handynutzung hat auch Folgen für unsere Psyche. Eine noch kaum bekannte Auswirkung ist die Nomophobie – abgeleitet von der englischen Bezeichnung „No Mobile Phone Phobia“. Sie steht für eine übersteigerte Angst, vom eigenen Smartphone und der Handykommunikation getrennt zu sein. „Geht das Handy verloren oder ist man aufgrund eines Funklochs oder eines leeren Akkus kurzzeitig nicht erreichbar, kommt es zu einem subjektiv verschobenen, übermäßigen Angstempfinden“, erläutert Yvonne Görlich von der Privaten Hochschule Göttingen.
Obwohl es Überschneidungen der Nomophobie mit der Smartphone- und Internetsucht gibt, stellt sie ein eigenständiges Konstrukt dar. „Smartphone-Abhängigkeit zählt zu den Suchterkrankungen, während Nomophobie eine Angststörung ist“, erläutert Görlich. Ähnlich wie diese kann sich Nomophobie auch auf andere Aspekte der Psyche auswirken: „In früheren Studien wurden signifikante Zusammenhänge zwischen Nomophobie und Einsamkeit, Depression, Ablenkung und verminderter Impulskontrolle festgestellt“, so die Psychologin.
Fast die Hälfte der jungen Erwachsenen betroffen
Doch ob es die Nomophobie auch bei uns in Deutschland gibt, war bisher unbekannt. „Bisher gab es in Deutschland kein geprüftes diagnostisches Instrument für Nomophobie“, sagt Görlich. Mit ihrer Kollegin Melina Coenen hat sie daher einen international bereits etablierten Test, den Nomophobia Questionnaire NMP-Q, übersetzt und erstmals in Deutschland eingesetzt. In diesem Fragebogen wird die Intensität der Angst vor dem Smartphone-Entzug in mehreren Stufen abgefragt und mit Persönlichkeitsmerkmalen verknüpft. An der deutschen Studie nahmen 807 größtenteils jüngere Männer und Frauen teil.
Das Ergebnis: Knapp die Hälfte der Teilnehmenden wies tatsächlich ein mittleres Maß an Nomophobie auf. Dabei fühlen sich Betroffenen ohne ihr Smartphone unwohl, sind nervös, ängstlich oder gereizt. Bei 4,1 Prozent der Testpersonen konnten die Psychologinnen sogar eine schwere Nomophobie diagnostizieren. Sie erreichten mehr als 100 der 140 erreichbaren Punkte. Zudem bestätigte die Studie, dass Nomophobie in manchen Fällen mit einer Smartphone-Sucht und der sogenannten Fear of Missing Out (FOMO), der Angst, etwas zu verpassen, einhergeht.
Frauen und bestimmte Persönlichkeitstypen sind anfälliger
Interessant auch: Frauen sind offenbar häufiger und stärker betroffen als Männer. In der Studie erreichten männliche Teilnehmer im Schnitt einen Nomophobie-Wert von 54, bei Frauen lag der Durchschnitt bei 63. „Wir können davon ausgehen, dass Frauen aufgrund eines stärkeren Bedürfnisses nach sozialen Beziehungen das Smartphone stärker zur Kommunikation nutzen und somit höhere Nomophobie-Scores erzielen“, sagt Görlich. Dazu passt, dass Frauen ihr Handy zwar nicht häufiger, aber meist länger nutzen als Männer.
Die Auswertung enthüllte auch, dass bestimmte Persönlichkeitstypen anfälliger zu sein scheinen als andere: Das Persönlichkeitsmerkmal des Neurotizismus – ein durch geringere emotionale Stabilität und eine Tendenz zu Angst, Unsicherheit und Nervosität gekennzeichneter Wesenszug – erhöht demnach die Wahrscheinlichkeit für eine Nomophobie. Die Persönlichkeitsmerkmale Gewissenhaftigkeit und Offenheit senken die Anfälligkeit dagegen.
Ist Nomophobie eine echte Angststörung?
Noch gilt Nomophobie nicht als anerkannte Krankheit. „Angesichts der so weit verbreiteten Smartphone-Nutzung und internationaler Studienergebnisse liegt die Frage jedoch nahe, ob Nomophobie in die Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) oder das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (DSM) aufgenommen werden sollte“, sagt Görlich. Wäre das der Fall, wäre die Nomophobie offiziell als Angststörung anerkannt.
Nach Ansicht der Psychologin sollte dies durchaus erwogen werden. Denn in schweren Fällen können Leidensdruck und Mechanismen ähnlich sein wie bei Spinnenphobie, Platzangst und anderen klassischen Angststörungen. „Die technischen Veränderungen und ihre psychischen Folgen zeigen sich auch darin, dass im seit 2022 gültigen ICD-11 die Computerspielsucht in der Rubrik Verhaltenssüchte neu aufgenommen wurde“, sagt Görlich.
Folgestudie sucht noch Teilnehmende
Mit einer weiteren Studie soll jetzt untersucht werden, inwieweit eine gezielt dosierte Smartphone-Nutzung die Nomophobie, aber auch Depressions-, Angst und Stresssymptome reduzieren sowie Wohlbefinden und Kreativität fördern kann. Für die Online-Studie werden Teilnehmende ab 18 Jahren gesucht, die ihr Smartphone mindestens zwei Stunden täglich nutzen und bereits einen Leidensdruck verspüren. Noch bis zum 3. März 2023 ist eine Teilnahme möglich.
„Wir suchen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Nomophobie-Symptome aufweisen wie Stress und Beklemmung bei ausgeschaltetem Mobiltelefon, Angstzuständen bei leerem Akku, aufgebrauchtem Datenvolumen, bei Unerreichbarkeit oder einem Gefühl der Panik, wenn das Smartphone zu Hause gelassen wurde“, erklärt Görlich. (PLoS ONE, 2022; doi: 10.1371/journal.pone.0279379)
Quelle: PFH Private Hochschule Göttingen