Ökologie

Gewinner und Verlierer im Wattenmeer

Wattwürmer haben sich in den letzten 40 Jahren vermehrt, Wattschnecken sind weniger geworden

Wattenmeer
Im ostfriesischen Wattenmeer herrschen heute andere Arten vor als noch in den 1980er Jahren. © Frank Wagner/ Getty images

Volkszählung im Watt: Forschende haben herausgefunden, dass sich die Zusammensetzung der Arten im ostfriesischen Wattenmeer seit den 1980er Jahren erheblich verändert hat. Demnach haben sich die Bestände von Wattwürmern sowie die Seegraswiesen und Austernbänke erholt, während andere charakteristische Arten wie Wattschnecke und Bäumchenröhrenwurm heute seltener vorkommen. Ursache dafür ist unter anderem ein Rückgang an Nährstoffen und der Anstieg des Meeresspiegels.

An der deutschen Nordseeküste erstreckt sich eine einzigartige Naturlandschaft: das Wattenmeer. Zweimal am Tag sorgt die Ebbe dafür, dass der Meeresboden dort bis zu 40 Kilometer vom Festland entfernt trocken fällt. Die große Artenvielfalt dieses Lebensraumes offenbart sich erst auf den zweiten Blick, denn sie verbirgt sich in Schlick und Sand. Dort leben Millionen winziger Algen, kleine Würmer, Schnecken, Muscheln und Krebse. Das Wattenmeer ist ein UNESCO-Weltnaturerbe, doch selbst dieser Titel kann Klimawandel und menschliche Eingriffe nicht völlig von ihm fernhalten.

Volkszählungen mit 40 Jahren Abstand

Forschende um Anja Singer von der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg haben deshalb in einer Langzeitstudie erforscht, wie sich das Leben im Wattenmeer in den vergangenen vier Jahrzehnten verändert hat. „In den letzten Jahrzehnten wurden in vielen Meeren deutliche Veränderungen in der Häufigkeit, Biomasse und räumlichen Verteilung charakteristischer Lebensgemeinschaften dokumentiert“, erklären sie. Auch für die Nordsee gab es dafür bereits Anzeichen.

Um festzustellen, was dies konkret für das ostfriesische Wattenmeer bedeutet, verglichen Singer und ihr Team einen historischen Datensatz aus dem Jahr 1980 mit einer aktuellen „Volkszählung“ aus dem Jahr 2018. In beiden Fällen waren zunächst Bodenproben an mehreren hundert Messstellen genommen und anschließend die darin enthaltenen Lebewesen gezählt worden. Der Vergleich beider Datensätze zeigt nun, wie sich die Häufigkeit und Verteilung der verschiedenen Arten im Laufe der Zeit verändert hat.

Die Verlierer im Wattenmeer

Das Ergebnis: Die Artenvielfalt im ostfriesischen Wattenmeer ist seit den 1980er Jahren insgesamt zurückgegangen, wie das Forschungsteam berichtet. Wurden damals noch 90 verschiedene Arten gezählt, so ist diese Zahl mittlerweile auf 81 geschrumpft. „Doch viel signifikanter ist die Abnahme der Gesamt-Individuenzahl der Arten pro Quadratmeter: Hier gab es einen gemittelten Rückgang um rund 31 Prozent. Die Gesamtbiomasse verringerte sich sogar um rund 45 Prozent im Vergleich zu den 1980er Jahren“, erläutert Singers Kollegin Ingrid Kröncke.

Wattschnecke
Die Gemeine Wattschnecke kommt mittlerweile viel seltener vor als noch vor 40 Jahren. © Senckenberg

Doch die sinkende Vielfalt hat nicht alle Tiere gleich stark getroffen. Zu den Verlierern zählen unter anderem drei Arten, die in den 1980er Jahren noch vorherrschend waren: die Gemeine Wattschnecke, der Bäumchenröhrenwurm und der Schlickkrebs. Bei allen drei Spezies ist die Biomasse in den letzten 40 Jahren jeweils um mehr als 80 Prozent zurückgegangen. Zu solchen Verlierern zählen laut Singers Team vor allem jene Tiere, die sich von an der Sedimentoberfläche wachsenden kleinen Algen ernähren. Der Grund: Im Vergleich zu damals wachsen heute weniger Algen und die Tiere finden dadurch weniger Nahrung.

Objektiv betrachtet ist der Rückgang der Algenblüten allerdings eine gute Nachricht, selbst wenn er nicht für alle Arten von Vorteil ist. „Seit den 1980er Jahren gelten strengere Anforderungen für die Landwirtschaft und für kommunale Kläranlagen, wodurch weniger Nährstoffe in die Flüsse gelangen – und damit auch in unser Untersuchungsgebiet“, erklärt Kröncke. Seit die Nährstoffbelastung im Wattenmeer abgenommen hat, sind das Wasser sauberer und die Algenblüten seltener geworden.

Wattwurm
Der Wattwurm profitiert von den veränderten Umweltbedingungen und ist einer der Gewinner im Wattenmeer. © Senckenberg

Wattwurm gehört zu den Gewinnern

„Was für die Wattschnecke vielleicht von Nachteil ist, ist für andere Organismen ein deutlicher Gewinn: Die bessere Wasserqualität wirkt sich beispielsweise positiv auf Seegraswiesen und Austernriffe aus. Die Ergebnisse unserer Studie bestätigen, dass sich Seegrasbestände im deutschen Wattenmeer bis 2018 erholt haben und zeigen eine Ausdehnung der gemischten Muschel- und Austernbänke“, berichtet Kröncke.

Einer der großen Gewinner im Wattenmeer ist der Wattwurm. Seine Biomasse hat seit den 1980ern um 75 Prozent zugelegt. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass er nicht nur vom sauberen Wasser, sondern auch vom Anstieg des Meeresspiegels profitiert. Der hat laut Singer dazu geführt, dass sich im Sediment mehr Sand und weniger Schlick anreichert – optimale Bedingungen für den Wattwurm und einige andere Arten.

Auch invasive Arten kommen häufiger vor

Die Studie verzeichnet allerdings auch einen Anstieg invasiver Arten im Wattenmeer. Mittlerweile kommen dort sechs ursprünglich nur in anderen Meeren verbreitete Tier- und Pflanzenarten vor, 1980 waren es erst zwei. Das hängt den Forschenden zufolge damit zusammen, dass die Oberflächentemperatur der Nordsee seit den 1980er Jahren um zwei Grad angestiegen ist und damit gute Bedingungen für wärmeliebende gebietsfremde Arten wie die Amerikanische Schwertmuschel bietet. Sie kommt mittlerweile 80 Prozent häufiger vor als damals.

Wenn Meeresspiegel und Temperaturen weiter ansteigen, wird das auch künftig tiefgreifende Veränderungen im Ökosystem Wattenmeer zur Folge haben, so die Wissenschaftler. (Frontiers in Marine Science, 2023; doi: 10.3389/fmars.2022.963325

Quelle: Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen

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