Potenzieller Durchbruch: Forscher haben erstmals ein Material gefunden, das bei Raumtemperatur und dem vergleichsweise mäßigen Druck von einem Gigapascal supraleitend wird. Erreicht wurde dies durch stickstoffdotiertes Lutetiumhydrid – einer Verbindung aus dem Lanthanoid Lutetium mit Wasserstoff, der einige Stickstoffatome als stabilisierende Verunreinigung hinzugefügt wurden, wie das Team in „Nature“ berichtet. Sollte sich diese Raumtemperatur-Supraleitung bestätigen, könnte dies den Beginn einer neuen Ära der Supraleitung einläuten.
Supraleiter leiten Strom ohne Widerstand. Schon jetzt werden sie daher in Teilchenbeschleunigern, Kernspintomografen und Quantencomputern eingesetzt, erfordern aber eine aufwendige Kühlung. Denn die meisten Supraleiter verlieren ihren Widerstand erst bei sehr tiefen Minustemperaturen. In den 1960er Jahren sagte der britische Physiker Neil Ashcroft zwar voraus, dass Wasserstoff sogar bei Raumtemperatur supraleitend sein könnte. Das funktioniert aber nur, wenn man ihn bei einem Druck von mehr als 450 Gigapascal in den metallischen Zustand bringt – einem Druck höher als im Erdkern.
Doch es gibt eine Kompromisslösung: In den letzten Jahren wurden mit Hydriden wie dem Schwefelwasserstoff oder Lanthanhydrid mehrere Materialien entdeckt, die schon bei gemäßigten Minustemperaturen supraleitend werden. Aber auch diese Wasserstoffverbindungen erforderten noch Drücke von weit mehr als 100 Gigapascal – dem Millionenfachen des atmosphärischen Drucks.
Wasserstoff, Lanthanoid und Stickstoff
Jetzt könnte es Forschern unter Leitung von Ranga Dias von der University of Rochester in New York erstmals gelungen sein, einen Raumtemperatur-Supraleiter unter gemäßigtem Druck zu erzeugen. Sie erreichten dies, indem sie zunächst nach einem von seiner Elektronenstruktur her besonders günstigen Partner für den Wasserstoff suchten. Fündig wurden sie bei dem Lanthanoid Lutetium. Dieses besitzt eine volle 4f-Elektronenschale und kann daher viele Elektronen für die Bildung der supraleitenden Elektronenpaare bereitstellen.
Im nächsten Schritt suchte das Team nach einem Weg, um den nötigen Druck zu reduzieren. Denn für die Supraleitung muss das Kristallgitter des Materials auf bestimmte Weise schwingen können, um die Bildung der Elektronenpaare zu erlauben. „Die Schlüsselfrage war, wie wir die Struktur soweit stabilisieren können, dass weniger Druck nötig ist?“, erklärt Dias. „An diesem Punkt kam der Stickstoff ins Spiel.“ Wie die Forscher feststellten, kann die Zugabe einer kleinen Menge Stickstoff dazu beitragen, das Gitter zu stabilisieren.
Farbwechsel markiert Übergang zum Supraleiter
Für ihr Experiment nutzten Dias, Erstautor Nathan Dasenbrock-Gammon und Kollegen Wasserstoffgas, dem ein Prozent Stickstoff zugesetzt war. Diese Gasmischung leiteten sie in die Reaktionskammer einer Diamant-Stempelzelle und gaben ein dünnes Stück Lutetium dazu. Unter einem Druck von zwei Gigapascal und 65 Grad Temperatur reagierten diese Komponenten zu dem blau gefärbten, stickstoffdotierten Lutetiumhydrid (LuH3-δN ε ).
Dann begann der eigentliche Test: Ausgehend von normalem Druck und einer Temperatur von minus 170 Grad erwärmten die Forscher das dotierte Lutetiumhydrid allmählich und erhöhten parallel dazu den Druck. Bei einem Druck von rund 0,3 Gigapascal ereignete sich ein auffallender Wandel: Durch eine Veränderung seiner Kristallstruktur verfärbte sich das Material von blau zu einem intensiven Pink. In Anlehnung an die fiktive Rote Materie im Film Star Trek von 2009 tauften die Forscher diesen Zustand „Reddmatter“.
Supraleitend bei 20,8 Grad: Raumtemperatur
Noch wichtiger jedoch: „Dieser Übergang des Systems in die Phase II leitet den Beginn des supraleitenden Regimes ein“, berichten Dias und sein Team. „Der Übergang zum supraleitenden Zustand zeigte sich in einem scharfen Abfall des elektrischen Widerstands innerhalb weniger Grad.“ Die Temperaturschwelle für die Supraleitung stieg dabei von minus 102 Grad bei 0,5 Gigapascal bis auf plus 20,8 Grad bei einem Gigapascal. Tests der magnetischen Eigenschaften und der thermodynamischen Kalorimetrie bestätigten den supraleitenden Zustand.
„Das Material zeigt damit eine Supraleitung bei Raumtemperatur und fast normalen Drücken“, konstatieren Dias und sein Team. Zwar ist ein Gigapascal noch immer deutlich höher als der normale Atmosphärendruck, er ist jedoch in technischen Fertigungsprozessen durchaus gängig wie beispielsweise in der Chipindustrie. Nach Ansicht der Forscher könnten das stickstoffdotierte Lutetiumhydrid und weitere, nach ähnlichem Prinzip zusammengesetzte Materialien, damit die Ära der Raumtemperatur-Supraleiter einläuten.
„Supraleitende Consumer-Elektronik, widerstandsfreie Stromleitungen und Transport sowie signifikante Verbesserungen bei den Magneteinschluss-Verfahren für Fusionsreaktoren könnte nun Realität werden“, sagt Dias. „Unsere Meinung nach sind wir nun in der Ära der modernen Supraleitung angekommen.“
Neuer Anlauf nach harscher Kritik
Allerdings: Dias und seine Kollegen sind kein unbeschriebenes Blatt: Im Jahr 2020 hatten sie in „Nature“ über ein mit Kohlenstoff versetztes Schwefelhydrid berichtet, das bei sehr hohem Druck, aber plus 15 Grad supraleitend wurde – fast bei Raumtemperatur. Im Nachhinein mussten sie den Fachartikel aber zurückziehen, weil damals unter anderem Daten zum Magnetverhalten fehlten und Zweifel an den Messergebnissen laut wurden. Inzwischen haben die Forscher die fehlenden Daten jedoch nachgeliefert und ihre Publikation erneut bei „Nature“ zur Wiederveröffentlichung eingereicht.
Um erneuter Kritik vorzubeugen, haben Dias und Co bei ihrem aktuellen Experiment daher besonders darauf geachtet, alle Schritte zu dokumentieren und die Ergebnisse mehrfach überprüft, wie sie berichten. Zudem wurden die Messungen nicht im eigenen Labor durchgeführt, sondern an zwei Nationallaboren in den USA. Dort waren auch nicht an der Studie beteiligte Physiker anwesend und Zeugen der Messergebnisse, wie die Forscher betonen.
Dias und sein Team sind daher zuversichtlich, dass ihre Ergebnisse Bestand haben werden und dass den Durchbruch zur Ära der Raumtemperatur-Supraleiter darstellen. (Nature, 2023; doi: 10.1038/s41586-023-05742-0)
Quelle: Nature, University of Rochester