Evolutionärer Exot: Der in heißen Tümpeln vorkommende Bakteriophage P74-26 ist doppelt einzigartig. Denn er übersteht nicht nur Temperaturen von mehr als 70 Grad – er hat auch den längsten je bei einem Virus entdeckten Schwanz. Dieser für die Injektion des viralen Genoms wichtige Anhang ist bei P74-26 fast einen Mikrometer lang und ungewöhnlich stabil aufgebaut. Wie der Bakteriophage dies erreicht, haben Forschende nun erstmals genauer untersucht – mit auch für die Phagentherapie relevanten Ergebnissen.
Viren sind die häufigste biologische Einheit auf unserem Planeten. Die Zellpiraten kommen von der Tiefen Biosphäre über die Ozeane bis auf die Berggipfel in nahezu allen Lebensräumen und allen Organismen vor. Auch in unserem Körper wimmelt es von Viren. Die meisten von ihnen sind aber keineswegs Krankheitserreger, sondern für uns vollkommen harmlos und sogar nützlich. Denn es handelt sich um Bakteriophagen – Viren, die auf den Befall von Bakterien spezialisiert sind.
„Bakteriophagen sind überall dort, wo es Bakterien gibt – im Wasser und Staub um uns herum und auch in unserem eigenen Körper“, erklärt Erstautorin Emily Agnello von der University of Massachusetts. Anders als die Viren, die unsere Zellen befallen, besitzen Bakteriophagen einen schwanzähnlichen Anhang, mit dem sie die Hülle von Bakterienzellen perforieren. Durch den Hohlraum im Phagenschwanz injizieren sie ihr Genom dann in die befallene Zelle.
Extrem hitzetoleranter „Rapunzel“-Phage
Doch Agnello und ihre Kollegen haben nun einen Phagen untersucht, der selbst für Bakteriophagen-Maßstäbe extrem ungewöhnlich ist. Bei dem Phagen P74-26 handelt es sich um ein Virus, das in heißen Tümpeln vorkommt und die dort lebenden Bakterien befällt – allein das ist schon exotisch. Denn P74-26 ist der einzige bisher bekannte Bakteriophage, der Temperaturen von mehr als 76 Grad auf Dauer aushalten kann.
Noch ungewöhnlicher ist jedoch der Schwanz dieser hitzetoleranten Viren: Bei P74-26 ist dieser hohle, biegsame Anhang fast einen Mikrometer lang – rund zehnmal länger als bei den meisten „langschwänzigen“ Bakteriophagen. „Die meisten Siphoviren haben Schwanzlängen zwischen 50 und 1.200 Nanometern“, erklären die Forschenden. „P74-26 hebt sich davon deutlich ab. Sein Schwanz ist länger als der jedes anderen bekannten Virus.“ Das Team verlieh diesem Phagen daher den Spitznamen „Rapunzel-Virus“.
Wie bleibt der Phagenschwanz stabil?
Um herauszufinden, wie der Schwanz von P74-26 aufgebaut ist und warum er selbst in einer so heißen Umgebung stabil bleiben kann, kultivierten sie diesen Bakteriophagen im Labor. Mithilfe der Cryo-Elektronenmiskopie konnten sie zahlreiche Phagen quasi auf frischer Tat ertappen und beobachten, wie diese Viren ihren Schwanz zusammenbauen. Zentraler Bestandteil ist dabei das aus vielen gleichen Grundeinheiten aufgebaute Tail-Tube-Protein (TTP).
„Jedes Phagenschwanz ist aus vielen kleinen Bausteinen aufgebaut, die zusammen die lange Röhre bilden“, erklärt Agnello. Diese ist aus vielen übereinanderliegenden Proteinringen aufgebaut, die untereinander über eine Art Nut-und-Flansch-System verbunden sind. „Das Bauprinzip ähnelt dem von Lego-Bausteinen, bei denen die Steinen Noppen auf der einen Seite und passende Löcher auf der anderen haben“, erklärt Agnellos Kollege Brian Kelch.
Größere Bausteine und striktere Konstruktion
Anders als bei anderen Phagen nutzt P74-26 jedoch größere Grundeinheiten als Monomere für seinen Schwanz. Jeder Ring dieses hohlen Gebildes besteht bei ihm aus nur drei statt sechs Einheiten. „Dieser lange Schwanz ist dadurch aus größeren, stabileren Bausteinen aufgebaut. Das trägt wahrscheinlich dazu bei, den Phagenschwanz auch bei höheren Temperaturen zu stabilisieren“, erklärt Kelch. Die Forschenden vermuten, dass diese größeren Bausteine durch eine Mutation bei einem Vorfahren von P74-26 entstanden sind.
Die Analysen enthüllten zudem, dass der Schwanz des Phage P74-26 auf besondere Weise heranwächst: Erst wenn sich die ersten drei Monomere zu einem Ring finden, können sich die Bausteine für den nächste Ring an ihn anlagern – und auch dies nur in spezieller Konformation und auf einer Seite. „Weil der Schwanz von P74-26 so außergewöhnlich lang ist, besteht ein höheres Risiko für Defekte und falsch-konfigurierte Monomere“, erklärt das Team. „Die Nut-und-Flansch-Geometrie sichert eine zuverlässige Polymerisation und minimiert Defekte.“
Relevant auch für künftige Phagentherapien
Der „Rapunzel“-Phage P74-26 ist aber nicht nur als evolutionärer Exot und Sonderling interessant: Solche langschwänzigen Phagen könnten auch vielversprechende Kandidaten für neue antibakterielle Therapien in der Medizin sein. Schon jetzt werden Bakteriophagen als Helfer gegen hartnäckige, multiresistente Keime erprobt. „Indem wir den Zusammenbau von Phagen erforschen, können wir besser verstehen, wie diese Viren mit Bakterien interagieren“, erklärt Agnello.
Weil die Phagenschwänze für die Wirtserkennung und das erfolgreiche Infizieren der bakteriellen Wirte essenziell sind, könnte das Wissen um ihren Aufbau und ihre Optimierung auch dazu beitragen, Phagentherapien effektiver zu machen. „Unser Modell kann den Mechanismus erklären, durch den Phagen lange, stabile Schwänze mit hoher Zuverlässigkeit konstruieren“, so das Team. (Journal of Biological Chemistry, 2023; doi: 10.1016/j.jbc.2023.103021)
Quelle: American Society for Biochemistry and Molecular Biology