Streit um den Steinkreis: Eine neue Analyse widerspricht der 2022 aufgestellten These, nach der die berühmte Megalith-Anlage von Stonehenge einen komplexen 365-Tages-Kalender darstellte. Wie die Forscher erklären, fehlen dem Monument dafür wesentliche Komponenten. Andere Merkmale von Stonehenge seien dagegen für die Kalender-Interpretation außer Acht gelassen worden. Sie sehen in der Kalender-Deutung daher einen klassischen Fall von selektivem und nicht durch Fakten gestütztem Wunschdenken.
Die Debatte ist nicht neu: Bei vielen Monumenten der Steinzeit ist strittig, welchem Zweck sie dienten und in welchem Maße sie eine kalendarische Funktion besaßen. Klar scheint, dass viele Steinzeit-Bauwerke wie die Kreisanlage von Goseck, das Grab von Newgrange oder das berühmte Stonehenge nach astronomischen Gesichtspunkten ausgerichtet waren. Meist zeigen ihre Achsen auf den Sonnenauf- und -untergang zur Winter- oder Sommersonnenwende, auch Ausrichtungen nach dem Mond werden diskutiert.
Was Stonehenge ein „moderner“ Kalender?
Im März 2022 erschien jedoch eine Studie, die dem Steinkreis von Stonehenge eine weit komplexere Kalenderfunktion attestierte. Timothy Darvill von der Bournemouth University argumentierte, dass die Positionen der Steine das Sonnenjahr mit 365,25 Tagen widerspiegeln. Dabei entsprachen zwölf Durchläufe des Sarsen-Steinkreises 360 Tagen, fünf Trilith-Steine im Zentrum von Stonehenge sollten die fehlenden fünf Tage markieren. Die vier Stationssteine dienten der Anzeige eines Schaltjahrs alle vier Jahre, so die These. Damit wäre Stonehenge der älteste Beleg für einen solchen Sonnenkalender in Europa.
Doch stimmt das überhaupt? Das haben nun Guilio Magli vom Polytechnikum Mailand und Juan Antonio Belmonte vom Astrophysikalischen Institut der Kanaren genauer überprüft. Dafür analysierten sie die Interpretation von Darvill nach archäoastronomischen, kulturellen und numerologischen Gesichtspunkten.
Willkürliche Zahlenspiele
Den Anfang macht die Numerologie: Wie die Forscher erklären, ist sie besonders anfällig für Fehlinterpretationen. Denn es besteht die Gefahr, fälschlicherweise eine Bedeutung in zufällige oder aus rein ästhetischen Gesichtspunkten gewählte Zahlen und Maße hineinzulesen. Genau dies sei auch bei Darvill der Fall: „Es wird schon von Beginn an klar, dass diese Interpretation von zwei klassischen Problemen der Numerologie betroffen ist: der Zufälligkeit und dem Selektionseffekt“, so Magli und Belmonte.
Konkret kritisieren sie, dass die Zahl zwölf – für die Monate des Sonnenjahres – nirgendwo im Steinkreis auftaucht. Dass die 30 Sarsensteine daher die Tage eines Monats repräsentieren, sei aus der Luft gegriffen, so die Forscher. Der Selektionseffekt zeige sich darin, dass Darvill nicht in sein Schema passende Zahlen wie die der Blausteine oder des aus zwei Steine bestehenden Portals komplett ignoriere.
Stonehenge war astronomisch nicht präzise genug
Noch gravierender aber ist nach Ansicht von Magli und Belmonte eine falsche Einschätzung der astronomischen Präzision des „Stonehenge-Kalenders“: Zwar zeigte der Steinkreis die ungefähre Zeit der Sonnenwenden an, nicht aber den exakten Tag. Der Grund: In den Tagen um die Sonnenwenden verschieben sich die Auf- und Untergangspunkte der Sonne am Horizont nur sehr wenig. Weil es in Stonehenge keinen markanten Referenzpunkt am Horizont wie einen Berggipfel gab, hätte der Sonnenkalender demnach niemals bis auf den Tag genau sein können.
„Diese langsame Bewegung der Sonne am Horizont macht es unmöglich, den Kalender zu eichen“, erklären die Forscher. Erst recht wäre es unmöglich, Schalttage und -jahre damit zu erkennen. „Dafür müsste man erkennen können, dass sich die Sonnenwende um einen Tag verschoben hat. Das aber erfordert eine bis auf wenige Bogenminuten präzise Positionsbestimmung – was in Stonehenge eindeutig unmöglich war“, so das Team. Die Erbauer des Steinkreises konnten zwar den ungefähren Zeitpunkt der Sonnenwenden bestimmen, es gebe aber keinerlei Indizien dafür, dass sie einzelne Tage zählten und zu Monaten zusammenfassten.
Fragwürdige Ägypten-Connection
Als dritten Punkt kritisieren die Wissenschaftler die Annahme, dass die Erbauer von Stonehenge sich überhaupt schon eines 365,25 Tage dauernden Sonnenjahres bewusst waren. Darvill hatte argumentiert, dass Fernbeziehungen zu Ägypten das Wissen um den Sonnenkalender auf die Britischen Inseln gebracht haben könnte. Doch ob die Ägypter schon damals den Sonnenkalender besaßen, ist umstritten. Hinzu kommt, dass ihre Kalender nur mit genau 365 Tagen rechnete – Schaltjahre kannten sie nicht.
„Nach Meinung des Autors erhielten die Stonehenge- Erbauer nicht nur Informationen über den ägyptischen 365-Tage-Kalender, sondern erkannten auch, dass der ägyptische Kalender nicht genau mit dem Sonnenzyklus übereinstimmte“, schreiben Magli und Belmonte. „Sie entschieden daher, diesen Makel zu beheben – und dies in einer Weise, die erst römischen Astronomen zu Julius Cäsars Zeiten gelang.“ Das Problem jedoch: Ob es vor mehr als 4.500 Jahren schon Kontakt zwischen Ägypten und den Britischen Inseln gab, ist unbekannt. „Es gibt nur einen einzigen Beleg für einen weitgereisten Stonehenge-Besucher – und dieser kam aus den Alpen“, berichten die Forscher.
Und noch etwas kommt dazu: Den damaligen Bewohner der Stonehenge-Region fehlte schlicht die Mittel, um die Fehler im altägyptischen Sonnenkalender zu erkennen. „Vor der Ära der Teleskope hätte man dafür eine so präzise Sonnenuhr wie im Observatorium von Jantar Mantar in Indien benötigt“, so das Team. Doch das gab es in Europa nicht.
„Rein modernes Konstrukt“
Nach Ansicht von Magli und Belmonte ist daher die Interpretation von Stonehenge als präzisem Sonnenkalender mehr als fragwürdig. „Wir haben gezeigt, dass der angebliche ‚Julianische Steinzeitkalender‘ von Stonehenge ein rein modernes Konstrukt ist, dessen archäoastronomische und kalendarische Faktenbasis fehlerhaft ist“, konstatieren die Forscher. Die Idee beruhe auf einer Reihe von nicht durch die Fakten gestützten Analogien und Interpretationen.
Die Wissenschaftler halten es für weit wahrscheinlicher, dass die Menschen von Stonehenge zwar die Sonnenwenden als wichtige Punkte im Jahr erkannten und feierten. Darüber hinaus richteten sie sich aber vermutlich eher nach den Mondmonaten, die durch die Mondphasen am Himmel gut zu erkennen waren. (Antiquity, 2023; doi: 10.15184/aqy.2023.33)
Quelle: Antiquity, Politecnico di Milano