Herkunft geklärt: Vor 100 Millionen Jahren wandelten sich im Westen Nord- oder Mittelamerikas erstmals urzeitliche Motten zu tagaktiven Schmetterlingen – und wurden damit zu den Urahnen aller heutigen Tagfalterarten, wie ein neuer genetischer und geografischer Stammbaum der Tagfalter enthüllt. Demnach breiteten sich die Tagfalter vom westlichen Amerika über die Welt aus und erreichten als letztes auch Europa. Die Raupen der allerersten Tagfalter fraßen wahrscheinlich frühe Vertreter der Leguminosen, wie die Forschenden in „Nature Ecology & Evolution“ berichten.
Vor den Tagfaltern kamen die Motten: Schon vor rund 200 Millionen Jahren wandelten erste Vorfahren der heutigen Schmetterlinge ihre beißenden Mundwerkzeuge in Saugrüssel um, wie Fossilfunde nahelegen. Diese frühen Falter spezialisierten sich auf das Saugen von Blütennektar und entwickelten auch schon die typischen, von schillernden Nanostrukturen geprägten Flügelschuppen der Schmetterlinge. Noch waren diese Falter aber vorwiegend nachaktiv und ähnelten eher den heutigen Motten.
Neuer Stammbaum der Tagfalter
Wann und wo jedoch aus den Ur-Motten die ersten Tagfalter entstanden, war bisher strittig. Jetzt liefert ein erster umfassender genetischer Stammbaum aller Tagfalter eine Antwort. Akito Kawahara vom Florida Museum of Natural History in Gainesville und sein Team haben dafür DNA-Proben und Beschreibungen von 2.300 Schmetterlingsarten aus 90 Ländern zusammengetragen und analysiert. Auch elf fossile Schmetterlinge gingen in die Analysen ein. Über den Vergleich von 391 Genen in allen Arten konnten sie deren evolutionäre Entwicklung nachvollziehen.
Das Ergebnis ist ein Stammbaum aller Tagfalter, der ihre phylogenetische und geografische Entwicklung rekonstruiert. Er zeigt, wann und wo sich welche Tagfaltergruppen entwickelten und ausbreiteten. Die Rekonstruktion bestätigt: „Die Tagfalter entstanden vor rund 101 Millionen Jahren aus nachtaktiven, pflanzenfressenden Motten“, berichten Kawahara und seine Kollegen. Demnach flatterten die ersten Tagfalter schon zwischen den Beinen der Dinosaurier herum.
Ursprung liegt in Nordamerika
Der neue Stammbaum enthüllt aber auch, wo dieser Wandel von nachtaktiven Motten zu ersten Tagfaltern stattfand: „Die Modelle der Gebietsentwicklung legen konsistent nahe, dass die Tagfalter in Amerika entstanden. Ihr Ursprung liegt in dem Gebiet, das heute das westliche Nordamerika oder Mittelamerika umfasst“, berichten die Wissenschaftler. Zu jener Zeit vor rund 100 Millionen Jahren war der nordamerikanische Kontinent noch von einem großen Inlandsmeer in eine Ost- und eine Westhälfte geteilt.
Von Nordamerika aus breiteten sich die Tagfalter in den folgenden Millionen Jahren zunächst über die Neotropen aus. „Diese Region war ab der Zeit vor rund 60 Millionen Jahren eine wichtige Bioregion für die Bildung neuer Tagfalterarten. Viele neue Linien breiteten sich dann von diesem Gebiet in andere Regionen aus“, so die Forschenden. Über die Beringia-Landbrücke erreichten die Tagfalter erst Asien, dann den Mittleren Osten und Afrika. Sogar Indien, Australien und die Antarktis wurden trotz ihrer isolierten Lage von den Tagfaltern kolonisiert.
Europa kam als Letztes dran
Europa blieb dagegen lange frei von Tagfaltern: Die Ausbreitung der Schmetterlinge stockte rund 45 Millionen Jahre lang im Westen Asiens. Warum die Tagfalter damals nicht weiter nach Westen vordrangen, ist jedoch noch unbekannt, wie das Team erklärt. Erst vor rund 17 Millionen Jahren wagten sich die ersten zwei Tagfalter-Linien nach Europa vor, darunter die Vorfahren der Unterfamilie, zu der heute so bekannte Arten wie Tagpfauenauge, Distelfalter, Kleiner Fuchs, Landkärtchen oder Admiral gehören.
Die Folge dieser späten Tagfalter-Besiedlung ist in Europa bis heute sichtbar: „Europa hat im Vergleich zu anderen Teilen der Erde relativ wenige Tagfalter-Spezies“, sagt Kawahara. „Und die Arten, die es in Europa gibt, finden sich oft auch anderswo. So kommen viele europäische Tagfalter auch in Sibirien und Asien vor.“
Hülsenfrüchtler als ursprüngliche Futterpflanzen
Die Stammbaum-Rekonstruktion liefert auch Hinweise darauf, auf welchen Futterpflanzen die Larven der urzeitlichen Tagfalter wahrscheinlich heranwuchsen. Dies ist möglich, weil die meisten Spezies ein enges Spektrum an Wirtspflanzen nutzen und entsprechende genetische Anpassungen zeigen. „Wir haben uns diese Assoziationen über die evolutionäre Zeitlinie hinweg angeschaut und in nahezu jeder Familie der Tagfalter tauchten Hülsenfrüchtler als ursprüngliche Wirtspflanzen auf“, berichtet Kawahara.
Der Urahn aller Tagfalter könnte sich demnach als Larve vom Urahn aller Leguminosen ernährt haben. Denn auch der älteste gemeinsame Vorfahre aller Bohnen, Erbsen, Linsen, Sojabohnen oder Erdnusspflanzen entstand etwa vor 100 Millionen Jahren. „Die Evolution der Tagfalter und der Blütenpflanzen ist seit der Entstehung der Tagfalter untrennbar miteinander verbunden“, sagt Koautorin Pamela Soltis vom Florida Museum of Natural History. „Die enge Verbindung zwischen beiden hat zu einer bemerkenswerten Vielfalt in beiden Linien geführt.“ (Nature Ecology & Evolution, 2023; doi: 10.1038/s41559-023-02041-9)
Quelle: Florida Museum of Natural History