Verblüffend präzise: Archäologen haben im Nahen Osten die ältesten maßstabsgetreuen Baupläne der Menschheitsgeschichte entdeckt. Die 7.000 bis 8.000 Jahre alten Felsgravuren zeigen die Struktur von rätselhaften, teilweise mehrere Kilometer langen Megabauten in der Wüste Jordaniens und Saudi-Arabiens. Die erstaunlich präzisen Ritz-Zeichnungen dieser Anlagen werfen die Frage auf, wie die steinzeitlichen Erbauer deren Form vom Boden aus erfassen und ihre Pläne so genau umsetzen konnten.
In den Wüsten des Mittleren Ostens und Zentralasiens haben Steinzeitmenschen erstaunliche Monumentalbauten hinterlassen: Archäologen haben dort bereits mehr als 6.200 bis zu fünf Kilometer lange Anlagen aus aufgeschichteten Steinmauern und Gruben entdeckt. Die Größe und Form dieser „Desert Kites“ (Wüstendrachen) ist meist nur aus der Luft erkennbar. Gängiger Annahme nach dienten die bis zu 10.000 Jahre alten, meist trichterförmig zulaufenden Bauten dem großangelegten Fangen von Wildtieren.
Pläne von Wüstendrachen in Felsblöcke eingeritzt
Jetzt enthüllen Funde in Jordanien und Saudi-Arabien, dass die Erschaffer dieser steinzeitlichen Bauten auch genaue Pläne ihrer Konstruktionen erstellten und sie als Felsgravur verewigten. Entdeckt haben dies Rémy Crassard von der französischen Forschungsorganisation CNRS und sein Team, als sie das Umfeld von acht Desert Kites im jordanischen Jibal al-Khasabiyeh und vier Wüstendrachen bei Zebel az-Zilliyat in Saudi-Arabien näher untersuchten.
Dabei stießen die Archäologen an beiden Orten auf Felsblöcke, in die ein verblüffend präzises Abbild der nächstgelegenen Desert Kites eingraviert war. In Jordanien ist dieser „Bauplan“ rund 7.000 Jahre alt und in einen rund 80 Zentimeter langen und 32 Zentimeter breiten Kalkstein-Monolithen eingeritzt. „Die Treibmauern sind durch zwei aufeinander zulaufende Linien von rund 40 Zentimeter Länge dargestellt, die in einer sternförmigen, rund 26 Zentimeter großen Struktur enden“, berichtet das Team. An den acht Zacken dieses Sterns ist jeweils eine runde Grube eingezeichnet.
In Saudi-Arabien finden sich gleich zwei rund 8.000 Jahre alte Abbilder von Wüstendrachen auf der flachen Oberseite eines 3,82 Meter langen und 2,35 Meter breiten Steinblocks. Die besser erhaltene Gravur zeigt zwei kurze, weit auseinander liegende Treibmauern, die ebenfalls in einer sternförmigen Umfriedung enden. Diese hat sechs Zacken mit vertieften Gruben.
Verblüffend präzise und maßstabsgetreu
Das Erstaunliche dabei: Beide Pläne bilden die Struktur und Größenverhältnisse nahegelegener Desert Kites verblüffend präzise ab. „Die Gravuren sind überraschend realistisch und akkurat und noch dazu maßstabsgetreu“, berichten Crassard und sein Team. Der Ritzplan in Jordanien zeigt das Megabauwerk im Maßstab 1:425, in Saudi-Arabien werden die beiden nächstliegenden Wüstendrachen im Maßstab 1:175 dargestellt.
„Damit sind dies die ältesten maßstabsgetrauen Pläne der Menschheitsgeschichte“, konstatieren die Archäologen. „Zwar haben Menschen schon weit früher ihre natürliche Umgebung durch Bauwerke verändert, es gibt aber nur wenige Karten oder Pläne aus der Zeit vor den Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens.“ Aus neolithischer Zeit waren bisher gar keine präzisen Karten oder Bauzeichnungen bekannt. Das bisher älteste Beispiel für eine mögliche, wenn auch ungenaue Karte stammt aus der Steinzeit-Siedlung Çatalhöyük in Anatolien.
Die nun im Nahen Osten entdeckten Wüstendrachen-Pläne demonstrieren, dass Menschen schon vor gut 8.000 Jahren über die Fähigkeit verfügten, großräumige Strukturen auf eine kleine, zweidimensionale Fläche zu übertragen. Dies stellt einen Meilenstein im intelligenten Verhalten dar. „Diese Gravuren sind offensichtlich mentale Abbildungen, die nur die Erbauer und/oder Nutzer dieser Anlagen erstellen konnten“, konstatieren die Archäologen.
Technik dahinter bleibt rätselhaft
Doch die überraschende Präzision der Gravurzeichnungen gibt auch Rätsel auf. „Es stellt sich die Frage, wie diese Pläne erstellt werden konnten und auch, wie die Wüstendrachen erbaut wurden, denn ihre Größe übertrifft jedes architektonische Bauvorhaben, das je von einer Menschengruppe unternommen wurde“, schreiben Crassard und sein Team. „Die beiden Innovationen – die Konstruktion der größten zu jeder Zeit erreichten Bauten und ihre maßstabsgetreue kartografische Repräsentation – sind daher eng miteinander verknüpft.“
Wie die steinzeitlichen Erbauer diese Megabauwerke errichteten und dann noch maßstabsgenau aufzeichneten, bleibt jedoch rätselhaft. „Ohne entsprechende Werkzeuge wie Tacheometer oder GPS hätte selbst ein moderner Kartograf Schwierigkeiten, eine geometrisch so verlässliche Skizze eines Wüstendrachens zu erstellen wie diese Gravuren“, erklären die Archäologen. „Es scheint, dass die Erbauer eine uns noch unbekannte Kartierungstechnik kannten, die bestimmte Messungen und Berechnungen umfasste.“ (PLOS ONE, 2023; doi: 10.1371/journal.pone.0277927)
Quelle: PLOS, Universität Freiburg