Neue Physik? Physikern am Teilchenbeschleuniger LHC haben erstmals eine theoretisch vorhergesagte, aber zuvor noch nicht beobachtete Zerfallsform des Higgs-Bosons beobachtet. Bei dieser interagiert das Higgs zunächst mit einer Reihe virtueller Teilchen, bevor es in ein Z-Boson und ein Photon zerfällt. Das Spannende daran: Die Rate dieser Zerfallsform liefert mögliche Hinweise auf „neue Physik“ – noch unbekannte Teilchen oder Wechselwirkungen jenseits des Standardmodels.
Die Entdeckung des Higgs-Bosons im Jahr 2012 hat nicht nur Kernvoraussagen zum physikalischen Standardmodell bestätigt. Sie eröffnet auch die Chance, möglicherweise weitere Lücken zu schließen – und sogar noch unbekannte Teilchen und Kräfte zu entdecken: Weil das Higgs-Boson weder Ladung noch Spin besitzt und mit nahezu allen anderen Teilchen interagiert, könnte sein Verhalten Hinweise auf eine solche „neue Physik“ liefern und auch auf die noch immer gesuchten Teilchen der Dunklen Materie.
„Umweg“ über virtuelle Teilchen
Ein mögliches Indiz für „neue Physik“ könnte sich in einem schon länger vorhergesagten, seltenen Zerfallstyp des Higgs-Bosons verbergen. Bei diesem zerfällt das Masseteilchen in ein Z-Boson – eines der Trägerteilchen der schwachen Kernkraft – und in ein Photon. Dieser als H → Zγ abgekürzte Zerfall geschieht jedoch nicht direkt. Stattdessen durchläuft das Higgs zuvor eine Art Schleife, in der verschiedene virtuelle Partikel entstehen. Diese Teilchen tauchen scheinbar aus dem Nichts auf und verschwinden ebenso schnell wieder, weshalb sie nicht direkt nachweisbar sind.
Dieser „Umweg“ des Higgs-Zerfalls über die virtuellen Teilchen könnte – so hoffen Physiker – Hinweise auf noch unentdeckte Kräfte oder Teilchen in sich bergen. Sollten sie existieren, könnten sie diesen Zerfallsweg des Higgs-Bosons beeinflussen und die Rate dieser ohnehin sehr seltenen Zerfälle in ein Z-Boson und ein Photon verändern. Gängiger Theorie zufolge müsste ein Higgs der Masse von rund 125 Teraelektronenvolt in rund 0,15 Prozent aller Fälle auf diesem Wege zerfallen. Fällt der Prozess aber unter „neue Physik“, könnte diese Rate höher oder niedriger ausfallen – doch dafür muss dieser Zerfallsweg zunächst überhaupt nachgewiesen und gemessen werden.
Seltener Zerfallsweg in beiden Detektoren beobachtet
Genau dies ist nun Physikern mit dem Teilchenbeschleuniger LHC des CERN gelungen. Die Teams der beiden großen Teilchendetektoren ATLAS und CMS werteten dafür die Daten von Protonenkollisionen der zweiten Laufzeit des Beschleunigers aus, die von 2015 bis 2018 dauerte. Wenn in diesen Kollisionen Higgs-Bosonen entstanden, die den gesuchten Zerfallsweg durchliefen, dann müsste sich dies in den Detektoren durch einen Überschuss an Elektronen oder Myonen zeigen.
Tatsächlich ergaben sowohl die getrennten Auswertungen der ATLAS- und CMS-Kollaboration als auch eine zusätzliche gepoolte Analyse für beide Detektoren einen solchen Überschuss: „Die Analysen lieferte Indizien für den Zerfall des Higgs in ein Z-Boson und Photon mit einer Signifikanz von 3,4 Sigma“, berichtet das Team im Blog der ATLAS-Kollaboration. „Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit einer bloßen statistischen Schwankung bei weniger als 0,04 Prozent liegt.“
Ein solcher Wert gilt in der Teilchenphysik als starkes Indiz, für eine offizielle Entdeckung wird jedoch eine Signifikanz von fünf Sigma benötigt. Dennoch sehen die Physiker ihre Daten als ersten Beleg dafür, dass der theoretisch postulierte Zerfallsweg des Higgs-Boson existiert und nachweisbar ist.
Erste Abweichungen vom Standardmodell
Das interessante jedoch: Schon bei diesen ersten Beobachtungen von H → Zγ detektierten die Physiker eine Zerfallsrate, die deutlich höher liegt als die theoretisch vorhergesagte: Sie lag bei 0,34 Prozent. „Das bedeutet, dass dieser Zerfall etwas häufiger detektiert wurde als es das Standardmodell vorsieht“, berichtet die ATLAS-Kollaboration. „Obwohl die Unsicherheiten zurzeit noch relativ hoch sind, eröffnen diese Ergebnisse den Weg zu neuen Einblicken in das Verhalten und die Merkmale des Higgs-Bosons.“
Gleichzeitig sei dies ein guter Test für das Standardmodell. Denn sollten sich die Abweichungen von den Vorhersagen in weiteren Messungen bestätigen, könnte dies bereits ein Indiz für „neue Physik“ sein. „Mit der zurzeit laufenden dritten Laufzeit und der künftigen High-Luminosity-Phase des LHC werden wir die Präzision dieses Tests weiter verbessern und können dann sogar noch seltenere Zerfallsformen des Higgs-Bosons erforschen“, erklärt Florencia Canelli von der CMS-Kollaboration. (Large Hadron Collider Physics (LHCP) conference)
Quelle: CERN, ATLAS Collaboration