Evolution

„Verlorene Welt“ der Einzeller entdeckt

Fossile Moleküle enthüllen urzeitliche Lebenswelt verschwundener Eukaryoten-Urformen

Ur-Eukaryoten
Wie die eukaryotischen Organismen der "verlorenen Einzellerwelt" vor einer Milliarde Jahren aussahen, wissen wir nicht -aber vielleicht war es so ähnlich wie hier dargestellt. © TA 2023/ mit Midjourney produziert

Urzeitliche Pioniere: Bevor unsere Urahnen entstanden, dominierten zuvor unbekannte eukaryotische Einzeller die Ozeane und Seen der Urerde, wie nun fossile Moleküle enthüllen. Diese „Stammgruppen-Eukaryoten“ bildeten 600 Millionen Jahre lang eine ganz eigene Lebenswelt – bis sie vor rund 800 Millionen Jahren restlos ausstarben. Zeugnis von dieser „verlorenen Welt“ geben heute nur noch Protosterole, biochemische Vorformen der heute in allen zellkerntragenden Zellen genutzten Steroidmoleküle, wie Forschende in „Nature“ berichten.

Vor rund 800 bis 1.200 Millionen Jahren entstanden die gemeinsamen Vorfahren aller heutigen Eukaryoten – Einzeller, deren chemischer und struktureller Zellaufbau zum Grundbauplan aller zellkerntragenden Lebewesen werden sollte. Doch was war davor? DNA-Vergleichsanalysen zufolge müssten die Wurzeln der Eukaryoten noch weiter zurückreichen. Aber aus dieser Frühzeit sind keine eindeutigen Fossilien solcher Einzeller erhalten, die ältesten bisher gefundenen sind etwa eine Milliarde Jahre alt.

Sterol-Grundformel
Grundstruktur von Sterolen und Steroiden – wichtigen Zellbestandteilen aller Eukaryoten. © gemeinfrei

„Wissenschaftler suchen schon seit langem nach fossilen Belegen für solche Ur-Eukaryoten, aber ihre physischen Relikte sind extrem selten“, erklärt Erstautor Benjamin Nettersheim von der Universität Bremen. Deshalb haben er und seine Kollegen nun einen neuen, chemischen Ansatz gewählt, um Spuren dieser frühen Einzeller zu finden.

Biochemische Fahndungshelfer

Ausgangspunkt der Fahndung waren die in fast allen Eukaryotenzellen vorkommenden Steroidmoleküle. „Diese Lipidmoleküle sind integraler Bestandteil der eukaryotischen Zellmembranen, wo sie eine Vielzahl physiologischer Funktionen erfüllen“, erklärt Nettersheim. Konservierte Relikte dieser Steroide und ihrer Derivate lassen sich bis in Gesteine aus der Zeit vor rund einer Milliarde Jahren nachweisen.

Doch vor dieser Zeit könnte es bereits Einzeller gegeben haben, die Vorformen dieser Moleküle herstellen konnten, wie schon vor 30 Jahren der Biochemiker und Nobelpreisträger Konrad Bloch postulierte. Weil diese frühen Organismen noch nicht den kompletten Stoffwechselweg für die Herstellung der typischen Eukaryoten-Steroide besaßen, produzierten sie nur Ursterole und Protosterole – Moleküle, die heute nur noch als Zwischenprodukte in der zellulären Steroid-Synthesekette vorkommen.

Fossile Moleküle in uraltem Gestein

An diesem Punkt setzten Nettersheim und sein Team an: „Wir haben eine Kombination von Techniken angewandt, um verschiedene moderne Steroide zunächst in ihr fossiles Äquivalent umzuwandeln – andernfalls hätten wir gar nicht gewusst, wonach wir suchen sollten“, erklärt Co-Erstautor Jochen Brocks von der Australian National University. Dann begannen die Forschenden, Proben von bis zu 1,7 Milliarden Jahre alten Gesteinsformationen aus verschiedenen Ländern auf diese Moleküle hin zu untersuchen.

Stammgruppen-Eukaryoten
Vor dem letzten gemeinsamen Vorfahren aller heutigen Eukaryoten gab es noch eine andere Gruppe von eukaryotischen Einzellern. © TA 2023/ mit Midjourney produziert

Tatsächlich wurden sie fündig: „Die älteste Ansammlung dieser Biomarker stammte aus der 1,64 Milliarden Jahre alten Barney-Creek-Formation in Australien, sie enthielt fast 100 verschiedene Protosterol-Derivate“, berichten die Wissenschaftler. Auch in anderen Gesteinen aus dem mittleren Erdaltertum waren diese Proto- und Ursterole zu finden. „Wir entdeckten, dass Dutzende anderer Gesteine, die aus Milliarden Jahre alten Gewässern auf der ganzen Welt stammten, mit ähnlichen fossilen Molekülen übersät waren“, sagt Brocks.

Stammgruppen-Eukaryoten regierten die Urmeere

Demnach muss es schon vor 1,6 Milliarden Jahren eine ganze verlorenen Lebenswelt von Einzellern gegeben haben, die diese Ursterole herstellten. „Die neuen Funde dieser Biomarker enthüllen eine Protosterol-Lebenswelt, die im mittleren Proterozoikum weit verbreitet und sehr häufig war“, schreiben Nettersheim und seine Kollegen. Diese Stammgruppen-Eukaryoten bildeten eine große, weitverzweigte Gruppe von Organismen, die wahrscheinlich perfekt an die damals noch sauerstoffarme Urerde angepasst waren.

„Im offenen Wasser der Ozeane und Seen der damaligen Zeit wimmelte nur so von Protosterol-Biota – ihre Relikte sind eigentlich kaum zu übersehen“, sagt Brocks. „Aber wir Wissenschaftler wussten vorher nicht, wonach wir suchen mussten – bis jetzt.“ Diese Stammgruppen-Eukaryoten waren damals so erfolgreich, dass sie auch die Vorfahren der modernen, Steroide produzierenden Eukaryoten zunächst weitgehend verdrängten.

Mit dem Tonium kam das Ende

Doch vor rund 1.000 bis 800 Millionen Jahren änderte sich dies, denn in der erdgeschichtlichen Epoche des Toniums bahnte sich ein Wandel an: Die Erdatmosphäre der Erde reicherte sich zunehmend mit Sauerstoff an, die Nährstoffzufuhr in die Ozeane stieg und das Klima wurde kühler und wechselhafter. Dies hatte auch Konsequenzen für die damalige Lebenswelt: Die bisher dominanten Protosterol-Einzeller kamen nicht mit diesen Veränderungen zurecht und starben aus.

Stattdessen bekamen nun die Vorfahren der heutigen Eukaryoten die Oberhand. Denn unter den alten Umweltbedingungen war ihre aufwendigere, weniger effiziente Synthese der Steroide von Nachteil. Doch dies änderte sich in der neuen Ära: Anders als die Protosterole waren die Steroide robuster und schützten die Zellen besser vor Austrocknung, Kälteschocks und osmotischem Stress. „Die frühen Vertreter der fortgeschrittenen Eukaryoten könnten damit so etwas wie die Extremophilen ihrer Zeit gewesen sein“, erklären die Forscher.

Als sich dann die Umwelt wandelte, konnten diese Eukaryoten ihre Protosterol-Konkurrenten verdrängen, wenig später starben die Stammgruppen-Eukaryoten völlig aus. „Diese Transformation im Tonium könnte einer der tiefgreifendsten ökologischen Wandel in der Evolution komplexen Lebens gewesen sein“, so Nettersheim und seine Kollegen. „Die fossilen Proto- und Ursterole sind damit die Zeugen einer verlorenen Welt dieser Stammgruppen-Eukaryoten des Proterozoikums.“ (Nature, 3023; doi: 10.1038/s41586-023-06170-w)

Quelle: Australian National University, Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ

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