Uralte Muster: In einer Höhle in Frankreich könnten Archäologen die älteste bekannte Höhlenkunst von Neandertalern entdeckt haben. Die mit Fingern in den weichen Belag der Felswände geschabten Linien und Punkte entstanden vor mehr als 57.000 Jahren – und damit vor Ankunft des Homo sapiens in Europa, wie die Forschenden ermittelten. Form und Anordnung der Fingerspuren legen ihnen zufolge nahe, dass diese absichtlich erstellt wurden – ob sie auch rituelle Bedeutung hatten, ist unklar.
Lange galt der Homo sapiens als erste Menschenart, die Felsritzungen, Höhlenmalereien und Schmuck anfertigte und die Fähigkeit zu abstraktem und kreativem Denken besaß. Doch inzwischen ist klar, dass auch die Neandertaler dies schon beherrschten. Davon zeugen unter anderem Schmuckstücke aus Adlerkrallen und Muscheln, farbige Handabdrücke in mehreren spanischen Höhlen sowie eine schon 175.000 Jahre alte Tropfsteinkonstruktion in einer Höhle in Südfrankreich.
Muster aus Linien und Punkten
Jetzt könnten Archäologen ein weiteres Zeugnis früher Neandertaler-Kunst entdeckt haben. Es handelt sich um abstrakte Linien- und Punktmuster, die an den Wänden der Höhle La Roche-Cotard im Tal der Loire zu sehen sind. Das Team um Jean-Claude Marquet von der Universität Tours führt schon seit 2008 Ausgrabungen und Untersuchungen in dieser aus mehreren Kammern bestehenden Höhle durch. Dabei wurden neben Tierknochen und Tierspuren auch zahlreiche Steinwerkzeuge der für den Neandertaler typischen Moustérien-Machart gefunden.
Im Zuge einer photogrammetrischen Kartierung der Höhlenwände stießen die Forschenden auf mehrere Wandbereiche mit in den weichen, feinkörnigen Belag der Tuffsteinwände eingedrückten Mustern. Sie bestehen aus zahlreichen flachen Linien, die teilweise parallele Streifen bilden, teilweise schräg zueinander stehen. „Die acht Paneele mit diesen Spuren bilden eine offenbar organisierte Abfolge entlang der längsten und regelmäßigsten Wand dieser Höhle“, berichtet das Team. „Es scheint sogar eine Zunahme der Komplexität in den Mustern zu geben.“
Eindeutig menschengemacht
Doch wer hinterließ diese Abdrücke? Wie die Archäologen erklären, sind die Muster für Tierspuren zu regelmäßig und auch ihre Morphologie passt nicht: Anders als Klauenspuren von Höhlenbären oder anderen Tieren zeigen diese eingesenkten Linien und Punkte keinen v-förmigen Querschnitt. „Diese Marken sind flacher, breiter und u-förmig“, berichten Marquet und sein Team. „Sie passen zu Spuren, die man mit einer Fingerspitze oder einem ähnlich geformten Werkzeug hinterlässt.“ Nach Ansicht der Forschenden müssen diese Spuren demnach menschlichen Ursprungs sein.
Naheliegend wäre es, diese Spuren dem Homo sapiens zuzuschreiben – schließlich ist unsere Spezies für Felskunst und Höhlenmalereien bekannt. Doch Datierungen mithilfe der optisch stimulierten Lumineszenz (OSL) ergaben, dass die Muster in der La Roche-Cotard-Höhle älter sein müssen als 57.000 Jahre. „Dieses Alter macht es höchst unwahrscheinlich, dass der anatomische moderne Mensch in dieser Höhle aktiv war“, konstatieren Marquet und sein Team. Denn die frühesten Vertreter des Homo sapiens erreichten Europa erst vor rund 45.000 Jahren, wie Fossilien und DNA-Analysen nahelegen.
Hinzu kommt: Der Zugang zur Höhle ist seit rund 51.000 Jahren von dicken Sedimentschichten versperrt. Als der Homo sapiens diese Gegend erreichte, konnte er die Höhle daher nicht mehr betreten, wie das Team erklärt. Unter anderem deshalb gibt es in der Höhle keine Steinwerkzeuge, Knochen und sonstige Spuren einer menschlichen oder tierischen Präsenz aus der jüngeren Vergangenheit. Erst als 1848 an dieser Stelle ein Steinbruch angelegt wurde, legten die Arbeiten den Höhleneingang wieder frei.
Neandertaler als kreative Künstler?
Nach Ansicht der Archäologen spricht damit alles dafür, dass diese Fingermuster vom Neandertaler stammen – und dass sie absichtlich an den Höhlenwänden platziert wurden. „Das Layout dieser nichtfigurativen grafischen Einheiten bildet eine organisierte und absichtsvolle Komposition“, schreiben sie. „Sie sind das Resultat eines Denkprozesses, der zu einer bewussten Gestaltung und Intention führt.“
Ob diese Muster das Produkt eines künstlerischen Ausdrucks waren oder vielleicht sogar eine rituelle Bedeutung besaßen, ist allerdings unklar. „Wir können nicht feststellen, ob sie symbolisches Denken repräsentieren“, so Marquet und sein Team. „Die Spuren aus der La Roche-Cotard sind dennoch eine neue und sehr wichtige Erweiterung unseres Wissens über das Neandertaler-Verhalten.“ Da das maximale Alter der Fingerspuren nicht genau bestimmbar war, könnte es sich sogar um die älteste Höhlenkunst Europas handeln. (PLoS ONE, 2023; doi: 10.1371/journal.pone.0286568)
Quelle: PLOS