Kunst des Blattschneidens gelüftet: Forschende haben herausgefunden, wie Blattschneiderameisen die Größe der von ihnen abgetrennten Blattstücke messen. Demnach nutzen die kleinen Arbeiterinnen beim Zurechtbeißen des Blattes ihre Hinterbeine, um mit dem Blattrand in Kontakt zu bleiben und sich dadurch räumlich zu orientieren. Weitere sensorische Informationen liefern spezielle Bewegungsrezeptoren am Hals. Mit dieser ausgeklügelten Technik können die Ameisen Blätter passgenau zurechtschneiden und dabei sowohl deren Dicke als auch den Bedarf im Ameisennest miteinkalkulieren.
Die in Mittel- und Südamerika lebenden Blattschneiderameisen sind wahre Superhelden. Die kleinen Insekten können Blattstücke tragen, die sechsmal so schwer sind wie sie selbst. Ein gesamtes Ameisenvolk kann so jährlich bis zu 300 Kilogramm frisches Pflanzenmaterial ernten, was in etwa dem Appetit eines mittelgroßen Pflanzenfressers entspricht. Doch die Ameisen fressen die Blätter nicht selbst, sondern nutzen sie, um damit einen symbiotischen Pilz als Nahrungsquelle für die Kolonie zu züchten.
Wie sie die dafür benötigten Blattstücke mit ihren kräftigen Kiefern zurechtschneiden und dabei verhindern, dass sie mehr abbeißen als sie tragen können, ist bislang allerdings nur in Teilen bekannt.
Fake-Blätter und Halbmonde
Forschende um Daniela Römer von der Universität Würzburg sind der Kunst des präzisen Blattschneidens nun genauer auf den Grund gegangen. Um herauszufinden, wie die Ameisen der Art „Atta sexdens“ die Größe von Blattstücken messen, ließen sie die Tiere künstliche Blätter aus Parafilm bearbeiten und hielten ihre Manöver dabei mit der Kamera fest. Um die Fake-Blätter für die Ameisen interessanter zu machen, hatten die Forschenden sie zuvor mit zerkleinerten Brombeerblättern und Rosenöl eingerieben.
Römers Team beobachtete, wie die Ameisen mit ihren Mundwerkzeugen halbkreisförmige Muster aus den Parafilm-Blättern ausschnitten. Dabei nutzten sie ihren eigenen Körper als eine Art Zirkel und hielten sich gleichzeitig mit den Hinterbeinen am Blattrand fest. Die Größe der Ellipsen hing dabei unter anderem von der Dicke der Blätter ab, wie Römer und ihre Kollegen berichten. Demnach gingen die Tiere bei dickeren Blättern ein wenig in die Hocke, um den eigenen Radius zu verkürzen und dadurch kleinere Formen auszuschneiden.
Hinterbeine als Kompass
Doch wie gelingt es den Ameisen, die Größe der Blattstücke passgenau zu kontrollieren und sogar an lokale Umstände wie die Blattdicke flexibel anzupassen? Da sich die Tiere beim Schneiden mit den Hinterbeinen am Blattrand festhielten, vermuteten Römer und ihre Kollegen zunächst, dass das Wissen über die Position ihrer Beine ihnen womöglich dabei helfen könnte, ihre Schnittbahn zu steuern.
Um diese Hypothese zu testen, warteten die Forschenden ab, bis die Ameisen die Hälfte ihres Schnittes hinter sich gebracht hatten, und schoben dann vorsichtig ein Stück Papier zwischen Ameise und falsches Blatt. Für die zweite Hälfte ihres Schnitts fehlte den Insekten dadurch die Information über die Position ihrer Beine im Verhältnis zum Blattrand.
Und tatsächlich: „Bei mehreren Arbeiterinnen, die ohne Kantenkontakt schnitten, war die Kontrolle über die Schnittbahn merklich beeinträchtigt. Einige Fragmente waren kleiner und runder. Diese Beobachtung verdeutlicht, wie wichtig die Rückmeldung über die Position der Blattkante ist, um die Schnittbahn zu kontrollieren und den Schnitt zu beenden“, erklärt das Forschungsteam.
Perfekter Schnitt ist auch Kopfsache
Doch viele Ameisen waren trotz dieser Manipulation immer noch in der Lage, ähnlich große Blattfragmente zu schneiden wie zu Beginn. Römer und ihre Kollegen gingen daher davon aus, dass es einen zweiten Mechanismus geben musste, der wahrscheinlich mit der Kopfposition der Ameisen zusammenhing. Um die Rolle des Kopfes bei der Feinjustierung am Blatt genauer zu untersuchen, rasierte das Team den Ameisen spezielle Nackenhaare ab, die ihnen im Normalfall dabei helfen, die Position ihres Kopfes zu erkennen.
Daraufhin beobachteten die Forschenden, wie die Ameisen – ohne Kontakt zum Blattrand und ohne Nackenhaare – auf einmal wahllos geformte Fragmente zurechtschnitten, die nichts mehr mit den elliptischen Formen vom Anfang gemein hatten. Für Römers Team steht dadurch fest: Die Ameisen setzen mindestens zwei Mechanismen ein, um die Größe der Blattstücke zu bestimmen. Nimmt man ihnen beide, sind sie quasi blind.
„Rückmeldungen von den Gliedmaßen, vor allem von den Hinterbeinen, scheinen der wichtigste Mechanismus zu sein, der Richtungsinformationen über die Lage der Blattkante liefert, während die Rückmeldungen von den Kopfbewegungen in geringerem Maße Kontrolle über die Schneidebahn ausüben“, berichten die Forschenden.
Blätterernte nach Bedarf
Blattschneiderameisen setzen ihren Körper demnach nicht wie einen starren Zirkel mit dem Radius ihrer eigenen Körpergröße ein, sondern justieren auch noch während des Schneidens immer wieder flexibel nach, um die gewünschte Form zu erhalten. In den Regenwäldern Südamerikas hilft ihnen diese sensorische Feinfühligkeit dabei, die Blattgröße ihrer Tragfähigkeit und dem Bedarf der Kolonie anzupassen, wie Römer und ihre Kollegen erklären.
Ist das Blatt zum Beispiel etwas dicker und zäher oder liegt das Nest nicht allzu weit entfernt vom Ernteplatz, wurde bereits beobachtet, dass die Ameisen kleinere Fragmente präferieren. Auch zu Beginn der Futtersuche fallen die Blattstücke häufig kleiner aus, damit die Arbeiterinnen schneller in die Kolonie zurückkehren und weitere Kolleginnen für die Ernte rekrutieren können. (Journal of Experimental Biology, 2023; doi: 10.1242/jeb.244246)
Quelle: The Company of Biologists