Indizien für Kannibalismus: Schon vor 1,45 Millionen Jahren könnten unsere Vorfahren das Fleisch anderer Menschen verzehrt haben. Belege dafür liefern nun Schnittspuren an einem in Kenia gefundenen Schienbeinknochen eines Frühmenschen. Form und Anordnung dieser Schnitte legen nahe, dass mit diesen Schnitten der fleischige Wadenmuskel abgetrennt wurde – möglicherweise um ihn dann zu verzehren. Ob der Tote und die „Nutznießer“ zur gleichen Menschenart gehörten oder nicht, ist allerdings noch unklar.
Kannibalismus ist heute in fast allen Kulturen tabu, nur in äußerster Not kommt es manchmal zum Verzehr von Menschenfleisch, beispielsweise bei der fatalen Franklin-Expedition des Jahres 1845. Doch das war nicht immer so: Zumindest bei einigen Frühmenschen wie dem Neandertaler und dem Homo antecessor könnte ein opportunistischer Kannibalismus häufiger vorgekommen sein: Man aß Menschenfleisch, wenn dieses einfacher zu bekommen war als tierische Beute.
Schnittspuren auf einem fossilen Schienbein
Jetzt haben Paläoanthropologen eines der bisher ältesten Zeugnisse für den Verzehr von Menschenfleisch entdeckt – durch Zufall. Denn eigentlich wollten Briana Pobiner vom National Museum of Natural History in Washington und ihre Kollegen herausfinden, wie oft frühe Menschen Raubtieren zum Opfer gefallen sind. Deshalb suchten sie nach Bisspuren auf mehreren 1,8 bis 1,5 Millionen Jahre alten Homininen-Fossilien, die in den letzten Jahrzehnten am Turkana-See gefunden wurden und die heute im kenianischen Nationalmuseum aufbewahrt werden.
An einem rund 1,45 Millionen Jahre alten Schienbein-Fragment eines Frühmenschen entdeckte Pobiner Überraschendes: Neben zwei möglichen Zahnspuren trug dieser Knochen neun eindeutige Schnittspuren. „Das war unerwartet, denn man hat zwar schon ähnliche, von Homininen gemachte Schnitte auf Tierknochen gefunden, aber Schnittspuren auf einem menschlichen Fossil sind aus dieser Zeit und Gegend nicht bekannt“, erklären die Forschenden.