Archäologie

Waren unsere Vorfahren Menschenfresser?

Schnittspuren an 1,45 Millionen Jahre altem Frühmenschen-Schienbein deuten auf Fleischverwertung hin

SChnittspuren
Fossile Schnittspuren auf dem 1,45 Millionen Jahre alten Schienbeinfragment eines Vor- oder Frühmenschen. © Jennifer Clark

Indizien für Kannibalismus: Schon vor 1,45 Millionen Jahren könnten unsere Vorfahren das Fleisch anderer Menschen verzehrt haben. Belege dafür liefern nun Schnittspuren an einem in Kenia gefundenen Schienbeinknochen eines Frühmenschen. Form und Anordnung dieser Schnitte legen nahe, dass mit diesen Schnitten der fleischige Wadenmuskel abgetrennt wurde – möglicherweise um ihn dann zu verzehren. Ob der Tote und die „Nutznießer“ zur gleichen Menschenart gehörten oder nicht, ist allerdings noch unklar.

Kannibalismus ist heute in fast allen Kulturen tabu, nur in äußerster Not kommt es manchmal zum Verzehr von Menschenfleisch, beispielsweise bei der fatalen Franklin-Expedition des Jahres 1845. Doch das war nicht immer so: Zumindest bei einigen Frühmenschen wie dem Neandertaler und dem Homo antecessor könnte ein opportunistischer Kannibalismus häufiger vorgekommen sein: Man aß Menschenfleisch, wenn dieses einfacher zu bekommen war als tierische Beute.

SChnittspuren Nahansicht
Nahaufnahme der neun menschengemachten Schnittspuren sowie von zwei Zahnabdrücken (5,6) einer Raubkatze auf dem fossilen Schienbein. © Jennifer Clark

Schnittspuren auf einem fossilen Schienbein

Jetzt haben Paläoanthropologen eines der bisher ältesten Zeugnisse für den Verzehr von Menschenfleisch entdeckt – durch Zufall. Denn eigentlich wollten Briana Pobiner vom National Museum of Natural History in Washington und ihre Kollegen herausfinden, wie oft frühe Menschen Raubtieren zum Opfer gefallen sind. Deshalb suchten sie nach Bisspuren auf mehreren 1,8 bis 1,5 Millionen Jahre alten Homininen-Fossilien, die in den letzten Jahrzehnten am Turkana-See gefunden wurden und die heute im kenianischen Nationalmuseum aufbewahrt werden.

An einem rund 1,45 Millionen Jahre alten Schienbein-Fragment eines Frühmenschen entdeckte Pobiner Überraschendes: Neben zwei möglichen Zahnspuren trug dieser Knochen neun eindeutige Schnittspuren. „Das war unerwartet, denn man hat zwar schon ähnliche, von Homininen gemachte Schnitte auf Tierknochen gefunden, aber Schnittspuren auf einem menschlichen Fossil sind aus dieser Zeit und Gegend nicht bekannt“, erklären die Forschenden.

Absichtsvolle Schnitte

Der Schienbeinknochen mit der Bezeichnung KNM-ER 7411 stammt aus einer Gesteinsformation bei Koobi Fora und wurde 1970 von der prominenten Paläoanthropologin Mary Leakey gefunden. Er ist rund 1,45 Millionen Jahre alt und galt zunächst als Knochen eines Australopithecus boisei, wie die Forschenden berichten. In den 1990er Jahren warfen jedoch Vergleiche mit dem Fossil des „Turkana Boy“ Zweifel daran auf und man hielt eine Zuordnung zum Homo erectus für passender. Bis heute ist jedoch strittig, von welcher Menschenart dieses Fossil stammt.

Klar scheint hingegen, dass die jetzt entdeckten Schnittspuren keine zufälligen Schäden sind, sondern absichtsvoll gesetzt wurden. Das schließen Pobiner und ihr Team aus der Form und Anordnung dieser Kerben. „Diese Spuren liegen alle im gleichen Bereich des Knochenschafts und sind ähnlich ausgerichtet: quer zur Knochenachse“, berichten die Forschenden. „Die V-Form und ihre gerade Richtung sind starke Indikatoren dafür, dass es sich um Schnittspuren handelt.“

Auch Vergleiche mit knapp 900 ähnlichen, experimentell erstellten Spuren von Schnitten, Schlägen oder natürlichen Beschädigungen ergaben deutliche Übereinstimmungen mit absichtsvollen Schnittspuren.

Fleischentnahme statt sekundärer Bestattung

Nach Ansicht von Forschenden spricht dies dafür, dass durch diese Schnitte einst gezielt das Fleisch vom Knochen gelöst wurde. „Die Schnittspuren sehen fast genauso aus wie bei Tierfossilien, die einst zum Verzehr geschlachtet und entbeint wurden“, sagt Probiner. Die Lage der Kerben passt zu denen, die man ansetzen würde, um bei einem frischen Kadaver den fleischigen Wadenmuskel vom Knochen zu trennen.

Weniger Übereinstimmungen gibt es dagegen mit einem nachträglichen Bearbeiten und Umbetten einer schon zersetzten Leiche. Eine solches Herauslösen der Knochen und ihr erneutes Begräbnis wurde von einigen Kulturen der Jungsteinzeit, aber auch im Mittelalter noch praktiziert. „Wir interpretieren die Schnittspuren aber eher als Resultat einer Fleischentnahme als das einer solchen Disartikulation“, konstatiert das Team. „Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass das Fleisch von diesem Bein einst gegessen wurde.“

War es echter Kannibalismus?

Damit könnte dieses Schienbein aus Koobi Fora der früheste eindeutige Beweis für den Verzehr von Menschenfleisch bei unseren frühen Vorfahren sein. „Diese Ergebnisse sagen uns, dass schon vor 1,45 Millionen Jahren Frühmenschen andere Frühmenschen aßen“, sagt Pobiner. „Dieses Fossil verschiebt damit das Vorkommen eines solchen Verhaltens weiter zurück in die Vergangenheit.“

Unklar ist allerdings, ob es sich um Kannibalismus handelte – und damit den Verzehr eines Artgenossen – oder ob hier eine frühe Menschenart eine andere als Beute nutzte und verzehrte. Denn bisher ist weder vom Täter noch vom Opfer die genaue Artzugehörigkeit bekannt. Ebenso ungeklärt bleibt vorerst, ob das Opfer gezielt dafür getötet wurde oder ob nur der frische Kadaver eines ohnehin schon Gestorbenen oder beispielsweise von einem Raubtier getöteten Artgenossen verwertet wurde. Für letztes könnten die beiden Zahnabdrücke einer Raubkatze auf dem Knochen sprechen.

Nach Ansicht des Teams hatte der Verzehr des menschlichen Fleisches aber wohl keine rituelle Motivation. Stattdessen gab es wahrscheinlich ganz praktische und opportunistische Beweggründe: „Dies geschah im Kontext der Nahrungsbeschaffung“, so Pobiner und ihre Kollegen. (Scientific Reports, 2023; doi: 10.1038/s41598-023-35702-7)

Quelle: Smithsonian Institution

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