Softie statt harter Typ: Der größte Räuber des Kambrium-Zeitalters nutzte seine Greifer offenbar doch nicht, um damit die harten Schalen von Trilobiten zu knacken, wie rekonstruktive Analysen nun zeigen. Demnach hätte Anomalocaris sich beim Greifen der gepanzerten Tiere wahrscheinlich verletzt. Stattdessen machte der frühe Meeresräuber wahrscheinlich Jagd auf weiche Beute wie Tintenfische. Dies wirft ein neues Licht auf die Struktur der Nahrungsketten in den Urzeitmeeren vor 500 Millionen Jahren.
Immer wieder tauchen Fossilien von Trilobiten mit vernarbten oder gar zerquetschten Exoskeletten auf. Als Verdächtiger galt lange Zeit der Urzeiträuber Anomalocaris canadensis, das größte Raubtier der kambrischen Meere vor 500 Millionen Jahren. Sein ein Meter langer, weicher Körper mit zwei Greifern und scharfen Augen war perfekt für die Jagd geeignet. Doch gehen die geknackten Trilobiten tatsächlich auf sein Konto?
Virtuell wieder zum Leben erweckt
Forschende um Russell Bicknell von der University of New England in Australien haben den urzeitlichen Krimi nun neu aufgerollt. Um herauszufinden, ob die stacheligen Greifer von Anomalocaris tatsächlich stark genug waren, um damit Exoskelette zu knacken, führte das Team eine Reihe biomechanischer Modellierungen durch. Dabei fertigte es zunächst ein dreidimensionales Modell des Tieres an, das auf 508 Millionen Jahre alten Fossilien aus dem Burgess-Schiefer, sowie den Eigenschaften moderner Tiere mit ähnlichen Anhängen basierte, darunter Geißelspinnen und -skorpione.
Anschließend simulierten Bicknell und seine Kollegen die Belastungen und Spannungen, die beim Packen der Beute auf die Greifer von Anomalocaris eingewirkt haben müssen. Um die genaue Position des Tieres beim Schwimmen und Beutefang zu rekonstruieren, platzierten sie das 3D-Modell außerdem in einer virtuellen Strömung. Mithilfe der gewonnenen Daten konnte das Team schließlich ermitteln, ob die Greifarme von Anomalocaris tatsächlich die Schäden an den Trilobiten-Exoskeletten verursacht haben könnten.
Fälschlicherweise verdächtigt
Das Ergebnis: „Die hohe Spannung entlang der dünnen, länglichen Endglieder deutet darauf hin, dass die Greifer nicht ausreichend verstärkt waren, um eine hohe Kraft auf die Beute auszuüben“, berichten Bicknell und seine Kollegen. Bei einem Angriff auf das harte Exoskelett eines Trilobiten wären die Greifarme von Anomalocaris daher wahrscheinlich beschädigt worden.
Das Forschungsteam geht deshalb davon aus, dass der kambrische Meeresräuber doch nicht für die vernarbten und zerquetschten Trilobiten-Fossilien verantwortlich sein kann. Stattdessen stehen nun Mitglieder der sogenannten Artiopoden im Verdacht, einer Tiergruppe, zu der auch die Trilobiten gehörten. Doch auch enge Verwandte von Anomalocaris kämen theoretisch in Frage, darunter Amplectobelua und Ramskoeldia.
Was Anomalocaris angeht, so bevorzugte dieser wahrscheinlich die Jagd auf weiche Beutetiere ohne harte Schale, wie das Forschungsteam erklärt. Den neuen Modellierungen zufolge war das Tier wahrscheinlich ein schneller Schwimmer, der mit ausgestreckten, stacheligen Greifern auf seine Beute zustürmte und diese womöglich sogar durchbohrte.
Neuer Blick auf urzeitliche Nahrungsnetze
Die Erkenntnisse zeichnen auch ein neues Bild von den Nahrungsnetzen, die einst in den kambrischen Meeren existierten. Statt nur eines Superprädators in Form von Anomalocaris, der sich auf jede Art von Beute stürzte, habe es offenbar schon vor 500 Millionen eine komplexe Nischenaufteilung unter den Raubtieren gegeben, so die Forschenden. Die diversifizierten „Waffen“ der verschiedenen Raubtiere könnten sich einerseits durch gegenseitige Konkurrenz herausgebildet haben, aber auch durch ein „Wettrüsten“ mit den Verteidigungsmechanismen ihrer Beute. (Proceedings of the Royal Society B Biological Sciences, 2023; doi: 10.1098/rspb.2023.0638)
Quelle: American Museum of Natural History, Proceedings of the Royal Society B Biological Sciences