Ökologie

Emanzipation der Natur

Rewilding als Hilfe zur Selbsthilfe für Ökosysteme

Die Weltgemeinschaft hat Großes vor. Beim UN-Biodiversitätsgipfel im Dezember 2022 haben sich die Verhandlungspartner unter anderem darauf geeinigt, dass 30 Prozent aller geschädigten Ökosysteme bis zum Jahr 2030 wiederhergestellt werden sollen. Im Mai 2020 hatte bereits die Europäische Kommission ihre Biodiversitätsstrategie vorgelegt. Sie verfolgt das Ziel, die biologische Vielfalt Europas wieder auf den Weg der Erholung zu bringen – ebenfalls bis 2030. Doch es bleibt eine wichtige Frage: Wie?

Mammutsteppe
Jeden einzelnen menschlichen Eingriff rückgängig zu machen, ist nicht möglich und würde wahrscheinlich sogar erfordern, die Mammutsteppe wiederherzustellen. © Mauricio Anton/ Sedwick C (2008) / PLoS Biology

Menschlichen Einfluss löschen

Die Antwort könnte Rewilding sein, eine verhältnismäßig junge Idee aus dem Naturschutz. „Beim Rewilding werden Ökosysteme wiederhergestellt, die zuvor durch menschliche Eingriffe verändert wurden, und zwar unter Verwendung der Pflanzen- und Tierwelt, die vorhanden gewesen wäre, wenn die Eingriffe nicht stattgefunden hätten“, erklärt die Weltnaturschutzunion IUCN.

Wie genau ein solcher menschenfreier „Urzustand“ eines Ökosystems aussieht, ist allerdings in vielen Fällen strittig und eine Frage des Zeitalters, das man dafür betrachtet. Eine allgemeingültige Definition gibt es daher nicht. Rewilding zielt jedoch typischerweise darauf ab, menschliche Eingriffe der Neuzeit rückgängig zu machen. Dazu gehört etwa die Errichtung eines Wehres oder die „kürzliche“ Ausrottung einer Tierart. Würde man in einem Ökosystem wirklich alle menschlichen Einflüsse ausradieren wollen, müsste man dafür wahrscheinlich so weit gehen, Elefanten als Mammutersatz wiederanzusiedeln.

Wölfe jagen Wapiti
Heute regulieren die Wölfe wieder die Wapiti-Bestände im Yellowstone. © Doug Smith/ National Park Service

41 Wölfe heilen ein Ökosystem

Ein Paradebeispiel für eine Rewilding-Maßnahme ist die Rückkehr der Wölfe in den Yellowstone-Nationalpark in den USA. Nachdem im Jahr 1926 das letzte bekannte Wolfsrudel im Yellowstone getötet worden war, geriet das Ökosystem aus dem Gleichgewicht. Die Zahl der Wapiti-Hirsche schoss in die Höhe, weil es keine Raubtiere mehr gab, um die Bestände zu regulieren. Sie fraßen zu viele junge Triebe ab, sodass weniger Bäume und Sträucher nachwachsen konnten, was wiederum andere Tierarten beeinträchtigte.

Im Zuge des Rewildings machten die Wildhüter ihren Fehler allerdings wieder gut, indem sie Mitte der 1990er Jahre insgesamt 41 Wölfe im Yellowstone ansiedelten. Die Raubtiere regulierten den Hirschbestand fortan, die Bäume erholten sich, Biber kehrten zurück und legten mit dem neuen Holz Teiche an, die wiederum Lebensraum für Fische, Vögel und Amphibien boten. Rewilding in Bestform.

Die Natur einfach machen lassen

Das Yellowstone-Beispiel verdeutlicht auch eine zentrale Grundannahme des Rewildings: Die Natur kann sich selbst am besten regulieren, wenn man sie denn lässt. In der Regel braucht sie dafür allerdings erst einmal Starthilfe, wie die niederländische Stiftung „Rewilding Europe“ erklärt:

„Manchmal müssen wir anfangs helfend unterstützen und erste grundlegend nötige Bedingungen schaffen – indem wir Dämme und Wehre zurückbauen, um Flüssen wieder ihren natürlichen Lauf zu ermöglichen, indem wir Wildtiermanagement wie Jagd und Fischerei reduzieren, indem wir Naturwälder sich regenerieren lassen, und indem wir Wildtieren eine Rückkehr in Gebiete ermöglichen, aus denen sie aufgrund menschlicher Eingriffe verschwunden waren. Dann sollten wir uns zurückziehen und die Natur Natur sein lassen.“ Also Rewilding als Hilfe zur Selbsthilfe.

Naturschutzgebiet Schild
Deutschland setzt aktuell eher darauf, bestehende Ökosysteme aktiv zu schützen, statt sie umfangreich zu renaturieren. © Gemeinfrei

Europa muss lernen loszulassen

In Europa ist das Bild vom Naturschutz jedoch häufig noch ein anderes. Zwar haben auch wir unsere Rolle als Problemverursacher und Ökosystemzerstörer verstanden, doch die Lösung dieser Probleme gehen wir vielerorts eher im Stile eines „Anti-Rewildings“ an. Wir verstehen uns eher als Gärtner, der sich um die Natur kümmern, der sie gießen und Unkraut jäten muss, damit sie überlebt. Nicht umsonst gibt es hierzulande die Berufsgruppen des Försters und des Jägers.

Wir versuchen, die zerstückelten Überreste europäischer Natur, die es noch gibt, mit aller Macht zu bewahren. Wir schützen einzelne, vom Aussterben bedrohte Arten und verlieren dabei manchmal das Bild für das große Ganze, dafür dass Biodiversität weit mehr als nur Artenschutz ist, kritisiert Rewilding Europe. „Die Naturschutzarbeit der letzten 30 Jahre – in Europa und weltweit – hat deutlich gemacht, dass der rein bewahrende Schutz der noch vorhandenen Natur einfach nicht ausreicht.“

Doch wie macht man den fein gepflegten „Garten“, den wir in Europa angelegt haben, wieder wild?

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Mehr Wildnis wagen
Wie Rewilding zerstörte Ökosysteme in Europa wiederbeleben kann

Emanzipation der Natur
Rewilding als Hilfe zur Selbsthilfe für Ökosysteme

Kerngebiete, Wildtierkorridore, Schlüsselarten
Die Grundprinzipien des Rewildings

Rewilding in Deutschland
Das Oder-Delta wird wieder wild

Rewilding gone wrong
Wenn Renaturierung nach hinten losgeht

Ist Europa bereit für Rewilding?
Wildnissuche auf einem dicht besiedelten Kontinent

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