Seit Jahrtausenden hat sich in unserem Kulturkreis das Bild der Zweierbeziehung als das Standardbeziehungsmodell gefestigt. War diese Zweierbeziehung zunächst überwiegend pragmatischer Natur – zwei Familien wurden durch eine Eheschließung verbunden und damit Macht- und Besitzansprüche ausgeweitet oder gefestigt – setzte sich ab 1800 immer stärker das Konzept der romantischen Liebe durch, das aber immer noch überwiegend auf die Konstellation ein Mann und eine Frau ausgerichtet war. Seit den 1990er-Jahren gibt es nun den Begriff der Polyamorie, der die gleichzeitige Liebesbeziehung zu mehreren Menschen beschreibt. Allerdings gab es ähnliche Konzepte bereits lange, bevor der Begriff etabliert wurde. Diese existierten mal mehr und mal weniger heimlich neben der von der Kirche gesegneten Form der Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau.
Was zeichnet polyamoröse Partnerschaften aus?
Polyamorie bezeichnet Konzept und Praxis der offenen, intimen und romantischen Liebe zu mehreren Personen gleichzeitig. Die Philosophie dahinter betont, dass es wichtig ist, selbst zu entscheiden, mit wie vielen Partnern man eine Beziehung führen möchte, anstatt sich an die allgemein akzeptierte Norm der monogamen Zweierbeziehung zu halten. Personen, die polyamorös sind, können eine beliebige sexuelle Orientierung haben und polyamoröse Beziehungen können Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen einschließen.
Abzugrenzen ist die polyamoröse Beziehung von der offenen Beziehung und anderen nichtmonogamen Beziehungen, denn die Polyamorie ist durch die emotionale sowie romantische Intimität zwischen den Partnern gekennzeichnet. Zudem wird die Polyamorie allen Beteiligten offengelegt. Bei einer offenen Beziehung beispielsweise einigen sich lediglich zwei Partner darauf, Geschlechtsverkehr außerhalb der Zweierbeziehung zu haben.
Polyamoröse Beziehungen können hierarchisch geregelt sein – dann hat eine Beziehung den Vorrang vor anderen Beziehungen und es gibt primäre und sekundäre Partner – oder sie ist gleichberechtigt. In einer hierarchischen, polyamorösen Beziehung sind die Sekundärpartner weniger stark in das Leben eingebunden. Mit dem Hauptpartner teilt man sich hingegen Wohnung, Konto oder es gibt gemeinsame Kinder. Viele Menschen in einer polyamorösen Beziehung sind mit dem Hauptpartner verheiratet.
Die entscheidenden Unterschiede polyamoröser Beziehungen gegenüber anderen nichtmonogamen Beziehungsformen sind vor allem Zustimmung und Kommunikation.
Monogamie war nicht der Anfang
Es gibt verschiedene Theorien darüber, wann und aus welchen Gründen sich die Monogamie für uns Menschen etabliert hat. Die meisten Theorien sind sich dabei in einem Punkt einig: Die Monogamie war nicht die ursprüngliche Beziehungsform des Menschen. Einige Wissenschaftler vermuten, dass die Zweierbeziehung sich als evolutionärer Vorteil herausgestellt hat, weil sie die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten eindämmte. Andere sind der Ansicht, dass die Monogamie zur gleichen Zeit entstand wie die Landwirtschaft und das Sesshaft werden. Bei dieser Lebensform ließ sich der Wohlstand leichter vermehren und die Nachkommen konnten einfacher geschützt werden. Seither wurden in verschiedenen Zeiten und Kulturen Sinn und Zweck der monogamen Partnerschaft immer wieder hinterfragt.
Nichtmonogame Beziehungen in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten
Der Wunsch nach einer Zweierbeziehung ist in der westlichen Kultur jedoch tief verwurzelt. Während die Ehe erst jüngerer Vergangenheit für Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung zugänglicher geworden ist, ist die Institution selbst eine sehr alte und vor allem religiös und wirtschaftlich bestimmte. Doch so traditionell die Ehe heute auch erscheinen mag, die globale Menschheitsgeschichte hat schon immer auch eine andere Form der Intimität begünstigt, die aktuell in einem neuen Kontext gesehen wird.
Formen nichtmonogamer Beziehungen gibt es bereits seit Jahrtausenden. Doch im Laufe der Jahrhunderte wurden sie auf unterschiedliche Arten wiederbelebt. Dabei gab es häufig – vor allem bei der Spielart der Polygamie – ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Ein Mann darf mehrere Frauen heiraten, aber eine Frau nur einen einzigen Mann.
Die „Erfindung“ der freien Liebe
Um 1800 herum kam es erstmals zu größeren Diskussionen rund um Beziehungsmodelle und zu Ideen zu Formen der freien Liebe. In einigen Kreisen führte dies zu Veränderungen der Beziehungspraxis – beispielsweise in sogenannten Liebeskooperationen, die den modernen polyamorösen Beziehungen ähnelten. Ein offener Umgang mit allen Liebesbeziehungen sollte Betrug gar nicht erst entstehen lassen. Die Bewegung setzte sich auch mit Themen wie Geburtenkontrolle für eine größere Selbstbestimmung in der Sexualität und der Reproduktion auseinander. Einige Feministinnen und frühe Sozialisten forderten darüber hinaus die Abschaffung der Ehe. In dieser Institution sah man reine Mitgiftjägerei. Die Bewegung konnte jedoch keine breite Öffentlichkeit für sich gewinnen und sich nicht gegen das vorherrschende Eheideal durchsetzen.
Die Frauenbewegung der 1960er als Triebfeder
Mit dem Aufkommen der Frauenbewegung der 1960er und 1970er-Jahre kam es erneut dazu, dass soziale Institutionen und Normen verstärkt hinterfragt wurden. Der exklusive Charakter der Ehe wurde aufgebrochen, gängige Moralvorstellungen kritisch beäugt und neue Beziehungsformen konnten sich etablieren. Diese Entwicklung lässt sich nicht zuletzt auf den medizinischen Fortschritt in Hinblick auf sexuell übertragbare Krankheiten, auf die Einführung der Antibabypille sowie die verstärkte Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in Zusammenhang bringen. In verschiedenen sozialen Bewegungen sowie in Subkulturen entwickelten sich Spielarten nichtmonogamer Beziehungsformen. Eine davon war die Polyamorie, die damals noch als verantwortliche Nicht-Monogamie bezeichnet wurde. Der Begriff der Polyamorie geht auf die Autorin Morning Glory Zell-Ravenheart zurück. Sie setzte sich in den 1990er-Jahren dafür ein, dass alternative Beziehungsformen zur Ehe eine gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung erfahren. Seit dem Jahr 2006 ist der Begriff Polyamory im Oxford English Dictionary zu finden, nachdem das Interesse an diesem Thema in den 2000er-Jahren zunächst vor allem im anglophonen Raum erneut an Bedeutung gewonnen hat. Es bekam eine größere öffentliche Bühne, nachdem sich Personen des öffentlichen Lebens zu nichtmonogamen Beziehungen bekannten.
Das Private ist politisch
Polyamorie wird nicht nur als Beziehungsform diskutiert. Getreu des Mottos „das Private ist politisch“ wird sie auch vermehrt in den Kontext eines Gegenentwurfs zur mononormativen Kultur als Fundament der kapitalistischen Produktion und Organisation der Gesellschaft gesetzt.