Geisterteilchen im Visier: Physiker haben eine neue Methode entwickelt und getestet, die die Masse von Neutrinos ermitteln soll – ultraleichten, schwer fassbaren Elementarteilchen. Dafür nutzt das Team den Betazerfall des radioaktiven Wasserstoff-Isotops Tritium, bei dem Antineutrinos frei werden. Anders als bei bisherigen Experimenten wird die Neutrinomasse dabei indirekt mithilfe der Cyclotronstrahlung eines ebenfalls emittierten Elektrons ermittelt. Dies ermöglicht genauere Messungen als bisher.
Sie rasen durch das Weltall, die Erde und selbst unseren Körper: Neutrinos sind allgegenwärtig, aber fast masselos und wechselwirken kaum mit normaler Materie. Deshalb sind sie schwer zu detektieren und noch schwerer zu messen. Doch gerade die Masse dieser „Geisterteilchen“ ist für viele fundamentale physikalische und kosmologische Prozesse entscheidend. Sie zu kennen, könnte daher helfen, offene Fragen zum Standardmodell, zur Dunklen Materie oder auch zur Antimaterie-Materie-Asymmetrie zu klären.
Doch die Neutrinomase ist viel zu gering, um sie direkt messen zu können. Das Elementarteilchen ist mindestens 500.000-mal leichter als ein Elektron.
Warum die Neutrinomasse so schwer zu messen ist
Dennoch gelang Physikern Anfang 2022 mit dem Experiment KATRIN am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ein erster Durchbruch: Sie grenzten die Obergrenze für die Neutrinomasse erstmals auf unter 0,8 Elektronenvolt ein. Dafür nutzte das Team eine indirekte Methode: Sie fingen die Elektronen ein, die beim Betazerfall von radioaktiven Tritiummolekülen (3H2) entstehen. Durch Messen der Energie dieser Elektronen konnten sie rückschließen, welche Energie und Masse die ebenfalls bei diesem Zerfall entstehenden Antineutrinos gehabt haben müssen.
Das Problem jedoch: Weil KATRIN molekulares Tritium verwendet und die Elektronen direkt einfängt, ist ihre Auflösung begrenzt. Deshalb haben Physiker der Project 8 Collaboration nun eine neue Methode entwickelt. Für die „Cyclotron Radiation Emission Spectroscopy“ (CRES) nutzen sie zum einen atomares Tritium, zum anderen fangen sie die beim Betazerfall entstehenden Elektronen nicht direkt ein, sondern fangen sie in einer speziellen Magnetfalle. In dieser werden die Elektronen auf eine Kreisbahn gelenkt, wodurch sie Energie in Form von Strahlung verlieren.
Frequenz der Synchrotronstrahlung als Waage
Der Clou dabei: An der von den Elektronen freigesetzten Synchrotronstrahlung lässt sich indirekt die Neutrinomasse ablesen. „Wenn Neutrinos und Elektronen gleichzeitig erzeugt werden, hat die Masse des Neutrinos einen winzigen Einfluss auf die Bewegung des Elektrons“, erklärt Koautor Sebastian Böser von der Universität Mainz. „Und diesen kleinen Effekt wollen wir sehen.“ Mit der neu entwickelten CRES-Methode ist dies möglich.
Weil die Frequenz der Synchrotronstrahlung mit der kinetischen Energie des Elektrons gekoppelt ist, lässt sich diese genauer messen als über andere Methoden. „Durch die hohe Präzision der Frequenzbestimmung und die Unempfindlichkeit von CRES gegenüber Störeffekten ist diese Technik ideal dafür geeignet, die beim Betazerfall emittierten Elektronen zu untersuchen“, schreiben die Physiker der Project 8 Collaboration. Die fertige CRES-Anlage könnte die Neutrinomasse bis hinunter auf 0,04 Elektronenvolt messen und eingrenzen.
Erster Test mit Mini-Version erfolgreich
In einem ersten Test haben die Physiker nun eine Miniaturversion der CRES-Anlage konstruiert und damit 3.770 Beta-Zerfälle von Tritium durchgeführt und die Energie der freiwerdenden Elektronen vermessen. „Das ist der allererste Einsatz dieser Messmethode, so etwas wurde in der Neutrinoforschung bisher noch nie gemacht“, sagt Koautor Noah Oblath vom Pacific Northwest National Laboratory in den USA. „Die meisten Experimente haben eine lange Geschichte, aber dies ist wirklich brandneu.“
Mit Erfolg: Die Tests ergaben, dass keine falschen Signale oder Hintergrundereignisse die Messungen verfälschen oder stören – alle Messeffekte lassen sich gut bestimmen und herausrechnen, wie das Team berichtet. Dadurch gelang es ihnen, eine erste Obergrenze für die Neutrinomasse zu bestimmen. Weil für diesen Machbarkeitstest allerdings noch eine Mini-Anlage und molekulares Tritium verwendet wurde, ist dieser Wert mit 150 Elektronenvolt noch sehr ungenau.
Nächster Schritt: Experiment in voller Größe
Das nächste Ziel ist es, die CRES-Neutrinowaage in ihrer vollen Größe aufzubauen und das System dann mit atomarem Tritium zu betreiben. Dafür arbeiten die Physiker der Project 8 Collaboration zurzeit an einer Anlage, die kalte, einzelne Tritiumatome produzieren soll. Zum Einsatz kommt dabei eine komplexe Anordnung von Magneten, die das Tritium in der Schwebe halten und an der Reaktion zu zweiatomigen Molekülen hindern.
Am Ende eines mehrjährigen Forschungs- und Entwicklungsprogramms soll das Project 8 Experiment die Empfindlichkeit bisheriger Experimente – wie des aktuellen KATRIN Experiments – schließlich übertreffen und so erstmals einen Wert für die Neutrinomasse ermitteln. (Physical Review Letters, 2023; doi: 10.1103/PhysRevLett.131.1025)
Quelle: DOE/Pacific Northwest National Laboratory, Johannes Gutenberg-Universität Mainz