Phänomene

Sterben wir aus?

Zeit für Veränderung drängt

Geht der Trend zur abnehmenden Spermiendichte bei Männern so weiter, dürften rein rechnerisch bis zur Mitte des Jahrhunderts kaum noch gesunde Spermien vorhanden sein. Wäre das der Fall, hätte es erhebliche Folgen für die menschliche Fortpflanzungsfähigkeit. Doch während die einen vor diesem Hintergrund von einer handfesten Krise sprechen, zieht die Datenlage für andere aktuell noch keinen Handlungsbedarf nach sich.

Spermienkonzentration im Zeitverlauf
Setzt sich der Trend weiter fort, wird die Spermienkonzentration im Jahr 2045 bei Null angelangt sein. © scinexx

Überleben der Menschheit in Gefahr

Jemand, der die aktuelle Entwicklung sehr ernst nimmt, ist die oft zitierte Epidemiologin Shanna Swan von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York. Sie war an den richtungsweisenden Studien von 2017 und 2022 beteiligt und hat der „Spermienkrise“ sogar ein eigenes Buch gewidmet. Darin heißt es: „Der derzeitige Zustand der Fortpflanzung kann nicht mehr lange andauern, ohne das Überleben der Menschheit zu gefährden“.

Dass Frauen heute im weltweiten Schnitt nur noch 2,4 statt wie in den 1960er Jahren 5,06 Kinder zur Welt bringen, liegt Swan zufolge nicht nur an einem besseren Zugang zu Verhütung und Aufklärung, sondern auch an zunehmender männlicher Unfruchtbarkeit. Swans Berechnungen zufolge wird die Spermienzahl bis 2045 bei Null liegen. Ihren Lesern rät sie daher „zu tun, was wir können, um unsere Fruchtbarkeit, das Schicksal der Menschheit und den Planeten zu schützen“.

Dem schließt sich auch Swans Kollege Hagai Levine von der Hebräischen Universität in Jerusalem an. Im „Guardian“ sagt er: „Ich denke, es handelt sich um eine Krise, die wir besser jetzt angehen sollten, bevor sie einen Wendepunkt erreicht, der möglicherweise nicht mehr umkehrbar ist.“

Alles nur Panikmache?

Genau entgegengesetzt hat sich der Androloge Stefan Schlatt von der Universität Münster im öffentlichen Diskurs positioniert. Er hält Swans und Levines Reaktion für eine Überinterpretation und im weitesten Sinne Panikmache. Seine These: Da ein Mann erst dann als unfruchtbar gilt, wenn er weniger als 16 Millionen Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit hat, der aktuelle Wert aber immer noch bei 49 Millionen liegt, gibt es nach heutigem Stand keinen Grund zur Sorge.

Schlatt sorgt sich eher um etwas anderes, wie er gegenüber dem „Tagessspiegel“ erklärte: „Die Zahl der Entwicklungsstörungen im männlichen Reproduktionssystem nimmt zu, insbesondere Hodenkrebs wird häufiger. Eine Ursache für dieses Phänomen zu finden, ist ein viel wichtigeres und drängenderes Problem als die immer noch in einen unbedenklichen Bereich gesunkene Spermienzahl.“

Künstliche Befruchtung als Übergangslösung

Aber Fakt ist: Setzt sich der aktuelle Trend im selben Tempo fort, steht es irgendwann schlecht um die männliche Fortpflanzungsfähigkeit. Egal ob es schon morgen oder erst in ein paar Jahrzehnten so weit sein wird. In 25 Jahren könnten dadurch deutlich mehr Paare ungewollt kinderlos sein als die aktuellen zehn bis 15 Prozent.

Je nachdem, wie stark die Fruchtbarkeit in Zukunft abfällt, könnte es aber zumindest übergangsweise möglich sein, Nachwuchs mithilfe künstlicher Befruchtung zu zeugen. Denn die dafür angewandten Methoden werden immer besser und können bereits heute Männern den Kinderwunsch ermöglichen, die gerade einmal 50.000 funktionsfähige Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit aufweisen.

Der Ablauf einer ICSI unter dem Mikroskop.© Fertility Associates

Eine der modernsten und am häufigsten angewandten Befruchtungsmethoden ist die sogenannte Intrazytoplasmatische Spermieninjektion oder kurz ICSI. Dabei werden aus dem Sperma des Mannes jene Samenzellen ausgewählt, die am leistungsstärksten und gesündesten sind. Eine von ihnen wird dann im Labor in die Eizelle der Frau injiziert, was dem Spermium die Anstrengungen der natürlichen Reise in den Eierstock erspart.

Sport treiben
Ein gesunder Lebensstil kann die Spermienqualität verbessern und auch Frauen profitieren hinsichtlich ihrer Empfänglichkeit von Sport und Co. © lzf/ iStock

Eine düstere Zukunft?

Doch wenn einem Mann kein einziges gesundes Spermium bleibt, so wie Swan es voraussagt, bringt auch eine künstliche Befruchtung nichts mehr. „Wenn wir unsere Lebensweise, die Umwelt und die Chemikalien, denen wir ausgesetzt sind, nicht ändern, mache ich mir große Sorgen, was in Zukunft passieren wird“, sagte Levine der BBC. „Irgendwann werden wir ein Problem haben mit der Fortpflanzung im Allgemeinen, und das könnte das Aussterben der menschlichen Spezies bedeuten.“

Doch es gibt Hoffnung. Dass Männer konstant neue Spermien produzieren, bedeutet nämlich auch, dass sie bei jedem neuen Spermium wieder die Chance haben, negative Einflüsse zu begrenzen. Da Spermien rund 75 Tage zum Heranreifen brauchen, können Männer also theoretisch alle zweieinhalb Monate ihre Spermienqualität verbessern, erklärt Swan. Etwa indem sie weniger rauchen und trinken, sich gesünder ernähren, Stress vermeiden und Sport treiben.

Der Einfluss von Umweltfaktoren auf die Spermien lässt sich jedoch nur in Maßen individuell steuern, etwa indem Männer mehr darauf achten, Bio-Obst und -Gemüse zu kaufen, bei dem keine Pestizide zum Einsatz kamen. Doch dass schädliche Chemikalien aus Alltagsgegenständen und Luft verschwinden, ist Aufgabe der Politik. Und die sollte sie nun ernster nehmen als je zuvor, wenn es nach Swan und Levine geht.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Die Fruchtbarkeitskrise
Sterben wir bald aus?

Spermien in Gefahr
So stark hat die Spermienzahl bereits abgenommen

Umweltgifte im Verdacht
Spermien leiden unter Chemikalien und Hitze

Unfruchtbarer Lebensstil
Auch Fastfood und Cannabis schaden den Spermien

Sterben wir aus?
Zeit für Veränderung drängt

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