„Kleber“ aller Materie vermessen: Physiker haben die starke Kernkraft mit bisher unerreichter Präzision vermessen – die Grundkraft, die alle Materie zusammenhält. Durch Protonenkollisionen im Teilchenbeschleuniger LHC und die dabei entstehenden Z-Bosonen gelang es dem Team, die Bindungsstärke der starken Wechselwirkung bis auf rund 0,8 Prozent genau zu messen. Dies schafft wichtige Voraussetzungen, um das Standardmodell der Teilchenphysik zu überprüfen und noch unentdeckte Kräfte oder Teilchen aufzuspüren.
Die starke Wechselwirkung ist die vielleicht fundamentalste aller Grundkräfte. Denn sie ist der „Kleber“, der die Protonen und Neutronen im Atomkern zusammenhält. Die Trägerteilchen der starken Kernkraft, die Gluonen, koppeln die Quarks in diesen Kernbausteinen aneinander. Zwar wirkt die starke Wechselwirkung nur auf kleinstem Raum, gleichzeitig ist sie jedoch die stärkste und wichtigste aller Grundkräfte im Kosmos – ohne sie gäbe es unser Universum in seiner heutigen Form nicht.
Doch trotz ihrer enormen Bedeutung ist die starke Kernkraft die am wenigsten erforschte aller vier Grundkräfte. Selbst ihre Intensität – die sogenannte Kopplungskonstante – ist bisher nur mit großer Unsicherheitsspanne bekannt. „Obwohl die Stärke der starken Kernkraft ein Schlüsselparameter des Standardmodells ist, ist sie nur bis auf ein Prozent genau gemessen“, erklärt Stefano Camarda von der ATLAS-Kollaboration am Forschungszentrum CERN. „Die weit schwächere elektromagnetische Grundkraft kennen wir dagegen bis auf ein Milliardstel genau.“
„Schubs“ abgestrahlter Gluonen gemessen
Um dies zu ändern, haben die Physiker der ATLAS-Kollaboration nun die Kopplungskonstante der starken Kernkraft über eine relativ wenig von Störeffekten beeinträchtigte Methode gemessen. Dafür werteten sie Kollisionen aus, bei denen Protonen im Large Hadron Collider (LHC) am CERN mit einer Energie von acht Teraelektronenvolt aufeinanderprallten. Bei diesen Kollisionen entstehen unter anderem Z-Bosonen, Elementarteilchen, die bei der gegenseitigen Auslöschung von zwei Quarks freiwerden.
Der Clou dabei: Bei dieser Annihilation der Quarks werden Gluonen frei und deren „Abstrahlung“ verleiht den dabei entstehenden Z-Bosonen einen seitlichen „Schubs“. Dieser Impuls wirkt quer zur Achse der ursprünglichen Kollision und ist im ATLAS-Detektor des LHC messbar. Weil das Ausmaß dieses seitlichen Schubses direkt von der Stärke der starken Kernkraft abhängig ist, lässt sich über diesen sogenannten Drell-Yan-Prozess auch die Kopplungskonstante dieser Grundkraft messen, wie die Physiker erklären.
Für ihre Studie haben Camarda und seine Kollegen von der ATLAS-Kollaboration die Zerfallsprodukte von gut 15 Millionen Z-Bosonen und deren seitlichen Impuls gemessen.
Genauer als alle frühere Messungen
Das Ergebnis ist die bisher genaueste Messung der Kopplungskonstante und damit der Stärke der starken Kernkraft. Die Physiker bestimmten dafür nun einen Wert von 0,1183 ± 0.0009. Die Messunsicherheiten liegen bei rund 0,8 Prozent. „Damit ist dies bisher genaueste experimentelle Messung“, berichtet das Team. Der Wert und seine Präzision liegen ihren Angaben zufolge im Bereich der zurzeit besten theoretischen Berechnungen.
„Das wir die Kopplungsstärke der starken Kernkraft bis auf das 0,8-Prozent-Niveau hinunter eingrenzen konnten, ist eine spektakuläre Errungenschaft“, sagt Camarda. Das Team geht aber davon aus, dass sich die Messgenauigkeit mit dieser Methode noch weiter steigern lässt – beispielsweise indem man als nächstes auch Protonenkollisionen mit höheren Energien auswertet.
Wichtig auch für die Einheitliche Feldtheorie
Wichtig ist ein präziserer Wert für die starke Kernkraft zum einen, weil viele andere physikalische Prozesse davon abhängen und mit ihr auch das Standardmodell überprüft werden kann. Zum anderen könnte ein genauerer Wert für die Kopplungskonstante dabei helfen, eine Grundfrage der Physik zu klären, die schon Albert Einstein Kopfzerbrechen bereitete: Gängiger Theorie nach waren direkt nach dem Urknall alle Grundkräfte noch in einer einzigen gemeinsamen Kraft vereint.
Wenn jedoch eine solche gemeinsame „Urkraft“ existierte, müssen die in ihr vereinten Einzel-Grundkräfte bei den damals herrschenden unvorstellbaren hohen Energien alle gleich stark gewesen sein – und sie müssten sie sich noch heute zumindest mathematisch-physikalisch auf einen Nenner bringen lassen. Einstein versuchte allerdings vergeblich, diese „Einheitliche Feldtheorie“ in Gleichungen zu fassen.
Heute hoffen Physiker jedoch, diesen „heiligen Gral“ der Physik durch immer genauere Messungen eingrenzen zu können. Die genauere Kenntnis der starken Kernkraft könnte dabei helfen. (Nature Physics, submitted, Preprint arXiv, doi: 10.48550/arXiv.2309.12986)
Quelle: CERN