Zusätzlich ergänzten sie die Daten mit eigenen Erhebungen zwischen 2016 und 2022. Ähnlich wie Hallmann nutzten sie dazu sogenannte Malaise-Fallen, um fliegende Insekten zu fangen und zu wiegen. Während Hallmanns Untersuchungen vorwiegend in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg stattfanden, fingen Müller und sein Team die Insekten in Süddeutschland.
Weniger Insekten nach warmen Wintern
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass unterschiedliche Wettervariablen und Wetteranomalien im Zusammenhang mit dem Klimawandel die Schwankungen in der Biomasse der Insekten beeinflussen“, berichtet das Team. Beispielsweise sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit, wenn der Winter ungewöhnlich warm und trocken ist oder zur Schlupfzeit der Insekten im Frühling kalte Temperaturen vorherrschen. Eine Kombination solcher Wetteranomalien erklärt den Forschenden zufolge, warum es insbesondere seit 2005 zu einem Einbruch der Insektenbestände in Deutschland kam.
Dagegen bot das Jahr 2022 günstige Wetterbedingungen für Insekten – und tatsächlich verzeichneten die Forschenden für dieses Jahr einen deutlichen Anstieg der gemessenen Insektenbiomasse. „Wir haben eine Biomasse gefunden, die im Durchschnitt fast so hoch war wie die Maximalwerte aus der Hallmann-Studie. Und unser Maximum 2022 war höher als alle Werte, die Hallmann je ermittelt hatte – dieser Wert stammt übrigens aus dem Wald der Universität Würzburg“, berichtet Müller.
Kein Grund zur Entwarnung
„Uns muss stärker bewusst werden, dass der Klimawandel bereits jetzt eine Hauptursache für den Rückgang der Insektenpopulationen ist“, sagt Koautorin Annette Menzel von der TU München. „Das muss in der Wissenschaft und beim Artenschutz stärker berücksichtigt werden.“ Gleichzeitig sind die Ergebnisse den Forschenden zufolge kein Grund zur Entwarnung. „Trotz des kürzlich beobachteten Anstiegs der Biomasse ist zu erwarten, dass neue Kombinationen ungünstiger mehrjähriger Wetterbedingungen die Insektenpopulationen bei anhaltendem Klimawandel weiter bedrohen werden“, schreiben sie.
Da vor allem große Insektenpopulationen in der Lage sind, auch ungünstigen Witterungsbedingungen zu trotzen, betont das Team, wie wichtig Maßnahmen zum Insektenschutz sind. „Auf Basis der derzeit verfügbaren Daten sehen wir Maßnahmen, die die Verfügbarkeit und Qualität von Lebensräumen erhöhen, als den vielversprechendsten Ansatz zur Verringerung des Risikos eines durch den Klimawandel bedingten Aussterbens von Insekten.“
Wetter nicht allein verantwortlich
Andere Experten, die nicht an der Studie beteiligt waren, warnen jedoch vor zu weitreichenden Schlussfolgerungen. „Keinesfalls sollte aus der Studie geschlossen werden, dass Wetterphänomene alleine den dramatischen Verlust an Insektenbiomasse in der Hallmann-Studie erklären können“, sagt Hans-Peter Piepho, Leiter des Fachgebiets Biostatistik an der Universität Hohenheim. „Die Tatsache, dass diese Studie einen großen Einfluss der Witterung nachweist, bedeutet nicht, dass andere Faktoren wie der Pestizideinsatz und die Änderung der Landnutzung nicht ebenfalls einen großen Einfluss haben können.“
Zudem betont Piepho, dass die verwendete Methode zwar statistische Korrelationen zwischen Wetter und Insektenmasse aufdecken kann, allerdings nicht geeignet ist, um kausale Zusammenhänge nachzuweisen. Carsten Brühl von der Technischen Universität Kaiserslautern-Landau weist darauf hin, dass das Wetter die Insekten auch indirekt beeinflussen kann, da es sich auf die landwirtschaftliche Praxis auswirkt.
„Faktoren wie der wetterbedingte Pestizideinsatz werden in der aktuellen Studie weder berücksichtigt noch diskutiert“, kritisiert Brühl. „Die Belastung mit bioaktiven Pestiziden auf 35 Prozent der Landesfläche Deutschlands ist nach wie vor ein zentraler Faktor für den beobachteten Insekten- und Biodiversitätsrückgang in der Kulturlandschaft.“ (Nature, 2023, doi: 10.1038/s41586-023-06402-z)
Quelle: Universität Würzburg
28. September 2023
- Elena Bernard