Nach 60 Jahren geklärt: Wird ein Diamant einer Schockwelle ausgesetzt, breiten sich winzige Defekte in seinem Gitter schneller aus als der Schall, wie nun ein Experiment im Röntgenlaser belegt. Die Versatzstellen im Kristall waren der transversalen Schallwelle des Schocks in diesem Material deutlich voraus. Dies ist der erste Nachweis einer solchen transsonischen Defektausbreitung in einem Festkörper, wie das Team in „Science“ berichtet. Ob die Defekte auch schneller sind als der schnellere longitudinale Schall, sollen nun weitere Experimente zeigen.
Wenn Gestein, Kristalle oder andere Festkörper einer Schockwelle ausgesetzt werden, hat dies Folgen: Das Material reagiert zunächst elastisch auf die Erschütterung und es entstehen vorübergehende Verformungen – wie beim Dehnen und Loslassen eines Gummibands. Als nächstes führt der Schock jedoch zu plastischen Verformungen, die die Struktur des Kristallgitters verändern: Es entstehen winzige Defekte in Form von Versatzstellen im Gitter, die sich rasend schnell ausbreiten.
Versatz und Schall im Diamant
Doch wie schnell geschieht diese Defekt-Ausbreitung? Über diese Frage wird seit fast 60 Jahren debattiert. Experimente mit verschiedenen kristallinen Feststoffen legten nahe, dass es ein vom Material abhängiges Tempolimit gibt, das deutlich unterhalb der Schallgeschwindigkeit in diesem Material liegt. „Zahlreiche Modelle und molekulardynamische Simulationen sagen dagegen die Existenz von transsonischen oder sogar supersonischen Dislokationsbewegungen voraus“, erklären Kento Katagiri von der Universität Osaka und seine Kollegen.
Das bedeutet: Theoretisch müssten sich die winzigen Defekte in einem geschockten Kristall sogar mit Überschallgeschwindigkeit ausbreiten können – und damit rasend schnell. Denn Schall kann sich in Festkörpern weit schneller ausbreiten als in Luft. Im Diamant erreichen Schallwellen beispielsweise ein Tempo von 18.000 Metern pro Sekunde, in den extrem dichten Kernen von Planeten könnte der Schall sogar der absoluten Obergrenze von rund 36.000 Meter pro Sekunde nahekommen.
Und noch eine Besonderheit gibt es in Festkörpern: Anders als in Luft oder Wasser bringt der Schall die Teilchen dort nicht nur longitudinal – parallel zur seiner Ausbreitungsrichtung – ins Schwingen, er lenkt sie auch senkrecht dazu aus. Diese transversalen Schallwellen sind dabei typischerweise etwas langsamer als die longitudinalen, aber noch immer zu schnell für gängige Messmethoden.
Laserschock und Röntgenpulse
Erst jetzt ist es dem Team um Katagiri erstmals gelungen, das Ausbreitungstempo von Schockwellen und Defekten in einem Feststoff direkt mitzuverfolgen und zu messen. Dafür setzten sie einen kleinen synthetischen Diamanten in den Strahlgang des XFEL-Röntgenlasers am japanischen SACLA-Forschungszentrum. Mithilfe von Nanosekunden-kurzen Laserpulsen eines optischen Lasers erzeugten sie dann zunächst Schockwellen von 100 Gigapascal Stärke in diesem Testdiamanten.
Wenige Nanosekunden nach dem Schock bestrahlten die Forschenden den Kristall mit Femtoskunden-Pulsen des starken Röntgenlasers. Dieser diente als eine Art Kamera, die zahlreiche kurze Schnappschüsse der Kristallstruktur und der Schockfronten im Inneren des Diamanten erstellte. Die Aufnahmen machten sichtbar, wie sich die Schockwellen der elastischen und plastischen Verformung durch den Diamanten ausbreiteten. Gleichzeitig zeigten schmale dunkle und hellere Streifen im Kristallgitter, wo sich die Defekte in Form der Versatzstellen bildeten.
Schneller als der transversale Schall
Dabei zeigte sich: Die winzigen Defekte im Kristallgitter des Diamants breiten sich tatsächlich schneller aus als der Schall. „Die Dislokationsgeschwindigkeiten liegen in beiden Schockrichtungen im transsonischen Regime“, konstatieren Katagiri und sein Team. Die Versatzstellen bewegten sich demnach schneller als die transversalen Schallwellen, aber etwas langsamer als die schnelleren longitudinalen Schallwellen, wie die Aufnahmen enthüllten.
Damit belegt dieses Experiment zum ersten Mal eindeutig, dass die Obergrenze für die Defektausbreitung deutlich höher liegt als bisher angenommen – und höher als die Schallgeschwindigkeit der transversalen Wellen. „Das legt nahe, dass wir mit dem, was wir über das schnellstmögliche Materialversagen zu wissen glaubten, falsch lagen“, sagt Koautorin Leora Dresselhaus-Marais von der Stanford University.
Fällt auch die zweite Schallmauer?
Nach Angaben der Forschenden ist sogar denkbar, dass die Defekte im Diamant auch die zweite, höhere Schallmauer knacken. Denn als Voraussetzung für die transsonische oder supersonische Ausbreitung gilt, dass schon der auf den Kristall treffende Schock stark und schnell genug sein muss, um den nötigen „Anfangsschub“ zu geben. „Wenn wir den Schock soweit erhöhen, dass die plastische Schockwelle noch schneller durch den Kristall rast, dann könnte dies eine noch schnellere Dislokation auslösen“, erklärt das Team.
Wichtig ist das Wissen um das maximale Ausbreitungstempo von Defekten nicht nur für Materialforschung und Technik, sondern auch für Geologie und Seismologie. „Wenn sich das Aufreißen einer Verwerfung bei einem Erdbeben schneller ausbreitet, dann kann dies mehr Schaden verursachen“, erklärt Katagiri. „Daher müssen wir mehr über diese Art katastrophalen Materialversagens lernen.“ (Science, 2023; doi: 10.1126/science.adh5563)
Quelle: DOE/SLAC National Accelerator Laboratory