Wir schreiben das Jahr 400 vor Christus. Die ägyptische Hafenstadt Thonis-Herakleion ist auf dem Höhepunkt ihrer Bedeutung und ihres Wohlstands. Von überall her aus dem Mittelmeerraum steuern Schiffe die Kais der Stadt an. Schon von See aus sind die mächtigen Mauern des großen Amun-Gereb-Tempels und vieler weiterer Bauten zu erkennen. Ein großer Kanal durchzieht Thonis von Ost nach West und verbindet das Hafengebiet am Mittelmeer mit einem westlich gelegenen See. Über ihn gelangt man auch nach Kanopus und weiter ins Landesinnere.
Der Unterwasserarchäologie Frank Goddio und sein Team haben das Aussehen des alten Thonis-Herakleion in einer interaktiven Karte rekonstruiert. Sie ist hier im Internet abrufbar.
Das „Venedig des Nils“
Vom blühenden Seehandel jener Zeit zeugen die unzähligen Funde, die Goddio und sein Team im Laufe der letzten gut 20 Jahre in der versunkenen Stadt gemacht haben. In den ehemaligen Hafenbecken und Kanälen von Thonis-Herakleion liegen hunderte von Amuletten, kleinen Votivankern aus Bronze, Blei oder Stein und andere Opfergaben, die Seeleute zum Dank für eine unversehrte Überfahrt für die Götter ins Wasser geworfen haben. Die Archäologen haben zudem mehr als 70 Schiffswracks aus der pharaonischen und frühen ptolemäischen Zeit im Bereich der einstigen Hafenstadt entdeckt.
Wegen ihrer vielen Kanäle und Hafenbecken gilt Thonis-Herakleion zu dieser Zeit als das „Venedig des Nils“, gleichzeitig ist sie ein Schmelztiegel der Kulturen. Denn das Küstengebiet an der Mündung des westlichsten Nilarms ist die einzige Region in Ägypten, in der sich Griechen unbehelligt ansiedeln und arbeiten dürfen. Die Stadt ist daher schon von Beginn an ebenso griechisch wie ägyptisch geprägt. Von dieser Doppelnatur profitieren der Handel, aber auch die vielen, verschiedenen Gottheiten gewidmeten Tempel der Stadt.
Die Stadt beginnt zu sinken
Die Blütezeit von Thonis-Herakleion hält auch noch an, nachdem weite Teile Ägyptens unter persische Herrschaft geraten und die Zeit der ägyptischen Pharaonen endet. Im Jahr 332 v. Chr., nach dem Sieg der Makedonier und Griechen unter Alexander dem Großen über die Perser, gerät Ägypten unter makedonische Herrschaft – die Ära der ptolemäischen Könige Ägyptens beginnt. Noch im Jahr 331 v. Chr. lässt Alexander der Große wenige Kilometer westlich von Herakleion eine neue Hafenstadt errichten: Alexandria. Sie soll seinem Willen nach das neue Zentrum des Handels und der Gelehrsamkeit werden.
Dennoch kann sich Thonis-Herakleion zunächst gegen die Konkurrenz im Westen behaupten. Allerdings hat sie zunehmend gegen ein ganz anderes Problem zu kämpfen: Die enorme Last der Gebäude führt vor allem im Nordteil der Stadt zu einer immer stärkeren Bodenabsenkung. Der weiche, aus Nilschlamm angeschwemmte Boden gibt unter dem Gewicht der Bauten allmählich nach und es kommt in den Uferbereichen immer häufiger zu Überflutungen. Doch die Bewohner der Stadt passen sich an: Sie verlegen die meisten ihrer Gebäude und Tempel auf die etwas höher gelegene zentrale Insel.
Das große Beben
Im Jahr 150 v. Chr. kommt es jedoch zu einer ersten großen Katastrophe für Thonis-Herakleion: „Ein Erdbeben löste einen Tsunami aus, der den größten Teil der Stadt zerstörte“, berichtet Goddio. Die Erschütterungen weichen den ohnehin wenig tragfähigen Untergrund auf und führen zu einer Bodenverflüssigung: Der Untergrund wird zu einer halbflüssigen Schlammmasse, in der Gebäude versinken und die Mauern zum Kollabieren bringt. „Nur einige Inseln blieben über dem Wasserspiegel“, so der Archäologe.
Von den Zerstörungen dieses Erdbebens und Tsunamis zeugt auch eine 2021 von Goddio und seinem Team entdeckte ptolemäische Galeere. Das 25 Meter lange, von Ruderern und einem großen Segel angetriebene Schiff war im Kanal an der Südseite des großen Amun-Gereb-Tempels am Steg vertäut. Als das Erdbeben den Tempel zerstörte und riesige Trümmerbrocken in den Kanal stürzten, trafen diese die Galeere, versenkten sie und überdeckten sie mit einer dicken Schicht aus Geröll und Lehm. Diese Schicht hat das Schiffswrack bis heute nahezu perfekt konserviert. Selbst Details ihrer Bauweise sind noch erkennbar, wie der flache, für Nilfahrten optimierte Kiel oder die Schlitz- und Zapfenverbindungen ihrer Rumpfplanken.
Für die einst so bedeutende Hafenstadt sind die Zerstörungen durch Erdbeben und Tsunami jedoch der Beginn des Niedergangs. Immer mehr Schiffe steuern nun statt ihrer Häfen die benachbarte Küstenmetropole Alexandria an. Thonis-Herakleion verliert zunehmend an Bedeutung. Zur Zeit Kleopatras ist die Stadt wegen ihres Tempels zwar noch ein religiöses Zentrum, wirtschaftlich aber längst abgehängt. Davon zeugen auch die auffallend spärlichen Funde und wenigen, eher kleinen Bauten aus der römischen Ära. In der Spätantike siedeln sich auf den verbliebenen Inseln der Küstenstadt allerdings einige neue, christliche Siedler an, auch ein byzantinisches Nonnenkloster wird etabliert.
Der endgültige Untergang
Doch um das Jahr 800 unserer Zeit kommt es zu einer zweiten großen Katastrophe: „Zu dieser Zeit ereignete sich ein zweites schweres Erdbeben, das die Stadt vollständig zerstörte“, berichtet Frank Goddio. „Es war das gleiche Erdbeben, das auch die Stadt Kanopus völlig zerstörte und das den Hafen Portus Magnus von Alexandria kollabieren und untergehen ließ.“ Die Erschütterungen, kombiniert mit Flutwellen und einer erneuten Bodenverflüssigung lassen den Rest von Thonis-Herakleion und große Teile der benachbarten Küste endgültig in den Fluten des Mittelmeeres versinken. Insgesamt verschwindet ein 110 Quadratkilometer großes Gebiet unter den Wellen.
Gut 1.200 Jahre lang bleiben die Ruinen der einst so bedeutenden, wohlhabenden Hafenstadt verschollen. Ihre Überreste liegen verborgen unter zehn Metern Wasser und rund zwei Metern Schlamm und Sand der Bucht von Abukir. Erst die beharrliche Suche der Unterwasserarchäologen vom Europäischen Institut für Unterwasserarchäologie (IEASM) um Frank Goddio hat zur Wiederentdeckung von Thonis-Herakleion geführt und das Schicksal dieser Stadt aufgedeckt.