Seit 80 Jahren auf dem Meeresgrund: Ozeanforscher haben vor der Südwestküste Norwegens ein seit dem Zweiten Weltkrieg verschollenes britisches U-Boot entdeckt – durch Zufall. Beim Kartieren des Meeresgrunds stießen sie in 160 Meter Tiefe auf ein Wrack, das sich bei näheren Analysen als das 1940 versenkte britische U-Boot HMS Thistle entpuppte. Das U-Boot war damals mit 53 Mann an Bord gesunken – wo genau, blieb aber bis jetzt unklar.
Der Grund des Ozeans gehört zu den letzten noch kaum erforschten Gebieten unseres Planeten. Denn der größte Teil des Meeresbodens ist bisher gar nicht oder nur grob kartiert und erkundet. Kein Wunder daher, dass selbst in Küstennähe immer wieder unbekannte Strukturen und lange verschollene Schiffswracks entdeckt werden – oft durch bloßen Zufall, wie beispielsweise bei einem Frachtensegler der Hanse oder dem bisher ältesten Schiffswrack der Welt. Noch seltener sind Wracks versunkener Unterseeboote.
U-Boot-Wrack am Meeresgrund
Umso spektakulärer ist nun der Fund, den norwegische Ozeanforscher bei einer Kartierung des Meeresgrunds vor der Südwestküste Norwegens gemacht haben. Ziel des vom geologischen Dienst Norwegens und dem Institut für Meeresforschung in Bergen initiierten MAREANO-Projekts ist es eigentlich, die geologische Struktur und Biologie der norwegischen Offshore-Gebiete zu erforschen. Dafür kartieren die Wissenschaftler den Meeresgrund mit Tauchrobotern und verschiedenen Sonartechniken.
Im Frühjahr 2023 zeigte sich auf dem Videostream des Tauchroboters eine ungewöhnliche, langgestreckte Struktur am rund 160 Meter tief liegenden Meeresgrund. Schnell war klar, dass es sich nicht um eine natürliche Formation, sondern um ein Schiffswrack handelte. „Nachdem wir das Wrack mit einer Kamera näher untersuchten, wurde uns klar, dass es von einem U-Boot stammte“ sagt Forschungsleiter Kjell Bakkeplass. Zwar war der typische Turm des U-Boot-Wracks zerstört, aber andere Merkmale wie die seitlichen Ruder am Heck und die Rumpfform sprachen dafür.
Welches Unterseeboot ist es?
Doch um welches U-Boot handelte es sich? Um das zu klären, zeigte Bakkeplass Aufnahmen des U-Boot-Wracks Marine-Experten und fahndete in historischen Marine-Aufzeichnungen verschiedener Länder nach Hinweisen auf gesunkene U-Boote in diesem Meeresgebiet. „Ich prüfte, ob es U-Boote gab, die in dieser Region verschollen sind und die zu diesem Wrack passen könnten“, erklärt der Forscher. Dabei kristallisierte sich heraus, dass nur britische U-Boote in Frage kamen.
Allerdings gab es gleich zwei Kandidaten: die HMS Oxley und die HMS Thistle. Das 1926 in Betrieb genommene U-Boot HMS Oxley war lange in australischen Gewässern im Einsatz, bevor es bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zur Patrouillenfahrt vor der norwegischen Küste abkommandiert wurde. Dort wurde es am 10. September 1939 irrtümlich durch das ebenfalls zur britischen Marine gehörende U-Boot HMS Triton torpediert. Die HMS Oxley sank mit 53 Mann Besatzung an Bord.
Zwei mögliche Kandidaten
Der zweite Kandidat, die 1938 vom Stapel gelaufene HMS Thistle, sank nicht durch „Friendly Fire“, sondern durch den Angriff eines deutschen U-Boots. Das 84 Meter lange U-Boot verschwand im April 1940 während einer Patrouille im Seegebiet vor der norwegischen Hafenstadt Stavanger. Später stellte sich heraus, dass die Thistle in ein Gefecht mit dem deutschen U-Boot U-4 verwickelt worden war. Dabei feuerte das britische U-Boot zunächst Torpedos auf die U-4, verfehlte sie aber. Dann schoss die U-4 und versenkte die HMS Thistle – ebenfalls mit 53 Mann Besatzung an Bord.
Bei beiden U-Booten blieb unklar, wo genau sie gesunken waren, sodass ihre Wracks nie gefunden wurden. Aber welches der beiden hatten Bakkeplass und sein Team nun entdeckt? „Nachdem mehrere Experten unsere Fotos studiert hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich die HMS Thistle war. Aber wir hatten zu wenig Details, um diese Frage eindeutig zu klären“, sagt Bakkeplass.
Es ist die HMS Thistle!
Erst jetzt konnte das Team die Identität des U-Boot-Wracks klären: Im Rahmen einer weiteren Kartierungsfahrt in diesem Herbst nutzten Bakkeplass und sein Team die Chance, erneut einen Tauchroboter zum Wrack hinunter zu schicken. „Wir wussten diesmal, nach welchen Merkmalen wir Ausschau halten mussten, daher konnten wir das Wrack als die Thistle identifizieren“, erklärt der Forscher. Inzwischen hat auch die britische Marine dies bestätigt.
Damit ist nach gut 80 Jahren geklärt, wo das britische U-Boot damals gesunken ist – und wo die Überreste der Besatzung bis heute auf dem Meeresgrund ruhen. Wie bei allen im Krieg versenkten Schiffen und U-Boten gilt das Wrack offiziell als Kriegsgrab und ist weiterhin Eigentum der britischen Marine.
Quelle: Institute of Marine Research