Sonnensystem

Gibt es Salzgletscher auf dem Merkur?

Erstarrte Fließspuren deuten auf die Existenz von Gletschern aus erstarrten Salzen hin

Falschfarbenbiuld des Merkur
Auf dem Merkur gibt es nicht nur organische Ablagerungen und Wassereis, sondern möglicherweise auch Gletscher aus erstarrten Salzen. © NASA/Johns Hopkins University Applied Physics Laboratory/ Carnegie Institution

Fließende Salze: Auf dem innersten Planeten Merkur könnte es einst Gletscher aus flüssigen Salzen gegeben haben – und mehr flüchtige Substanzen als bisher angenommen, wie Planetenforscher berichten. Indizien dafür liefern erstarrte, lappige Strukturen an Kraterrändern und Geländeeinschnitten, die Gletscherzungen verblüffend ähneln. Statt aus Wassereis bestehen diese Fließspuren aus Salzen, die vermutlich in der Frühzeit des Planeten abgelagert und bei späteren Einschlägen erhitzt und zähfließend wurden.

Der Merkur ist ein Planet der Extreme: Seine Tagseite ist mehr als 400 Grad heiß, seine Nachtseite eisige minus 180 Grad kalt. Denn dem innersten Planeten fehlt Atmosphäre, die die gewaltigen Temperaturunterschiede ausgleichen könnte. Lange gingen Planetenforscher davon aus, dass es deswegen auf dem Merkur auch kaum noch flüchtige Substanzen geben kann. In der enormen Hitze der Sonnennähe müsste solche chemischen Verbindungen längst verdampft und ins All entwichen sein.

Umso überraschender ist es, das die NASA-Raumsonde MESSENGER im Jahr 2012 mögliche Radarsignaturen von Wassereis auf dem Merkur nachgewiesen hat. Diese Depots liegen – ähnlich wie beim Erdmond – in schattigen Kraterrändern der Polarregion. Ob das Wassereis durch Einschläge eingetragen wurde oder aus dem Gestein stammt, ist unklar.

"Pockennarben" auf dem Merkur
Blick auf eine Ansammlung von „Pockennarben“ im Raditladi-Krater – Gruben, die wahrscheinlich durch die Sublimation flüchtiger Substanzen gebildet wurden. © NASA/JHU APL/CIW

„Pockennarben“ und flüchtige Elemente

Jetzt gibt es die nächste Überraschung: Der Merkur könnte einst auch eine exotische Form von Gletschern besessen haben – fließende Ströme aus zähflüssigen, halbgeschmolzenen Salzen. Anstoß für die Entdeckung dieser Salzgletscher gaben Daten der MESSENGER-Sonde, die Regionen mit erhöhten Konzentrationen weiterer flüchtiger Elemente wie Schwefel, Chlor, Natrium und Kalium identifizierten. Auffallende Gruben und „Pockennarben“ legten zudem nahe, dass dort einst Substanzen ausgegast und sublimiert sind.

Dieser Spur sind nun Alexis Rodriguez vom Planetary Science Institute in Tucson und ihre Kollegen nachgegangen. Für ihre Studie analysierten sie das Terrain in zwei Gebieten mit flüchtigen Substanzen mithilfe hochauflösender topografischer Daten. Das erste ist das nahe am Nordpol des Merkur liegende Gebiet Borealis Chaos, das zweite das etwa bei 30 Grad Nord liegende Einschlagsbecken Raditladi. Dieser rund 260 Kilometer große Krater entstand vor rund eine Milliarde Jahren.

Gletscherähnliche Fließspuren am Kraterrand

Die Analysen enthüllten: Entlang des Kraterrings der Raditladi-Senke sowie an Steilhängen von Borealis Chaos gibt es auffallend viele Ansammlungen rundlicher, tiefer Gruben. Einige davon sind bis zu 75 Meter tief, aber nur rund 25 Meter breit, wie Rodriguez und sein Team ermittelten. Die Form der Gruben ähnelt den Senken, die beim Ausgasen flüchtiger Substanzen aus dem Untergrund entstehen – beispielsweise am irdischen Meeresgrund oder auf dem Mars.

Ungewöhnlich ist jedoch eine weitere auf dem Merkur entdeckte Landschaftsform: lappenförmige Strukturen, die vom Kamm des Kraterrings nach unten und bis zu zehn Kilometer weit in die Ebene reichen. „Diese Lappen sind 200 bis 250 Meter dick und enden in einer abrupten Kante“, berichten die Forschenden. „Damit zeigen sie eine Morphologie, die irdischen und marsianischen Gletschern ähnelt.“ Auch im zerklüfteten Terrain des Borealis Chaos identifizierten Rodriguez und sein Team potenzielle Spuren vergangener Sublimationen und Ströme.

Lagekarte Merkur
Lage von Borealis Chaos und der Raditladi-Senke auf dem Merkur. © NASA/JPL/GSFC

Zähflüssiges Kochsalz statt Wassereis

Doch worum handelt es sich? „Unsere Analysen legen nahe, dass die gletscherartigen Ablagerungen im Raditladi-Krater auf eine Schicht im Untergrund zurückgehen, die mit flüchtigen Substanzen angereichert ist“, erklären die Forschenden. Bei Einschlag vor rund einer Milliarde Jahren wurden diese Schichten freigelegt und erhitzt. Entlang des Kraterrands bildeten sich dadurch fließende Ströme, die irdischen Gletschern oder Schlammlawinen ähneln.

Anders als Gletscher auf Erde und Mars bestehen die Urzeit-Gletscher des Merkur aber nicht aus langsam fließendem Wassereis, sondern aus kristallinen Salzen, die bei mehreren hundert Grad zähfließend wurden und später wieder erstarrten. „Unsere Modelle bestätigen, dass der Fluss solcher Salze diese Gletscher gebildet haben könnte“, sagt Rodriguez‘ Kollege Bryan Travis. Konkret könnten die Merkurgletscher vorwiegend aus Natriumchlorid, vielleicht vermischt mit Schwefel, bestehen.

Verborgene Schicht flüchtiger Substanzen

Nach Ansicht der Planetenforscher gab es auf dem Merkur demnach einst fließende Gletscher aus Kochsalz, die aber nur kurze Zeit viskös blieben und schnell wieder erstarrten. „Die aktive Phase dieser Gletscher endete innerhalb eines eng begrenzten Zeitrahmens von wenigen Erdjahren bis rund 5.000 Erdjahren“, berichten Rodriguez und sein Team. Die erstarrten Relikte dieser Salzgletscher sind jedoch bis heute in einem ausgedehnten Gebiet rund um den Nordpol und in einigen Kratern der Nordhalbkugel präsent.

Flüchtige Substanmzen
Gletscherähnliche Fließspuren im Raditladi-Krater und Ablagerungen flüchtiger Substanzen (orange) im Borealis Chaos. © Planetary Science Institute/ ChatGPT

Das jedoch könnte bedeuten, dass es auf dem Planeten Merkur auch heute noch weit mehr flüchtige Elemente und Verbindungen gibt als gedacht. „Wir gehen davon aus, dass die mit flüchtigen Substanzen angereicherten Schichten weiter verbreitet sind als zuvor angenommen und ausgedehnte Areale unter der Oberfläche einnehmen“, schreiben die Forschenden. Weil diese Schichten heute von Anlagerungen überdeckt sind, treten sie aber nur noch in Kratern zutage.

„Dies könnte auch die Häufung der Sublimations-Gruben an den Kraterinnenseiten erklären“, sagt Koautorin Deborah Domingue vom Planetary Science Institute. Diese Gruben entstanden demnach vor allem dort, wo die flüchtigen Substanzen an die Oberfläche traten – wie in den Einschlagskratern.

Neuer Blick auf Sonnensystem und Exoplaneten

Doch auch über den Merkur hinaus haben die neuen Erkenntnisse Bedeutung: „Unsere Funde erweitern unsere Vorstellungen glazialer Phänomene über die vertrauten Wassereisgletscher von Erde und Mars hin aus“, konstatieren die Wissenschaftler. Der Nachweis von Salzgletschern auf dem Merkur und die Gletscher aus gefrorenem Stickstoff auf dem Pluto demonstrieren, dass es gletscherartige Phänomen sowohl auf kalten wie auf heißen Welten gibt.

„Gletscher reichen damit von den innersten bis in die äußersten Bereiche unseres Sonnensystems“, sagt Rodriguez. Das lege nahe, dass glaziale Phänomene auch auf extrasolaren Planeten verbreiteter sein könnten als bisher angenommen. (Planetary Science Journal, 2023; doi: 10.3847/PSJ/acf219)

Quelle: Planetary Science Institute

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