Rhythmen für Säuglinge: Schon bei der Geburt können Neugeborene den Takt der Musik wahrnehmen und ihren „Beat“ erkennen, wie eine neue Studie zeigt. Diese Fähigkeit verdanken sie aber nicht ihrem Lernvermögen, sondern einem kognitiven Mechanismus, der angeboren und damit schon bei der Geburt aktiv ist. Die Ergebnisse legen nahe, dass unser Taktgefühl eine grundlegende menschliche Eigenschaft ist und in der frühen Entwicklung eine wichtige Rolle spielt.
Dass unser Gehirn Klangsequenzen erkennen und verarbeiten kann, ist für unsere Wahrnehmung von Musik und Sprache von entscheidender Bedeutung. Bei Babys spielen Takt und Melodien auch für die Entwicklung von Gehirn, Gehör und Stimme eine wichtige Rolle. Musik kann beispielsweise die neuronale Entwicklung von Frühgeborenen fördern und Babylieder helfen Säuglingen bei der Emotionskontrolle. Die Melodie der Muttersprache beeinflusst zudem das Rhythmusgefühl und musikalische Gehör sowie die „Schreimelodie“ von Babys, sogar schon im Mutterleib. „Wir wissen aber immer noch nicht viel darüber, wie Neugeborene Musik wahrnehmen, sich daran erinnern und sie verarbeiten“, sagt Koautor Henkjan Honing von der Universität Amsterdam.
Dass Säuglinge mehr als nur Töne wahrnehmen, legen frühere Studien nahe. „Wir fanden klare Hinweise darauf, dass Babys im Alter von nur wenigen Tagen bereits die Fähigkeit haben, einen regelmäßigen Puls in der Musik – den Takt – zu hören, eine Eigenschaft, die als wesentlich für das Musizieren und den Genuss von Musik gilt“, berichtet Honing. Um herauszufinden, wann und wie Neugeborene diese Fähigkeit entwickeln, hat ein Forschungsteam um Honing und Erstautor Gábor Háden vom HUN-REN Forschungszentrum für Naturwissenschaften (TTK) in Budapest diese Tests nun ausgeweitet.
Beat oder kein Beat?
In ihrem Experiment verwendeten die Wissenschaftler eine „normale“ und eine manipulierte Version derselben digital erstellten Tonsequenz. Diese dauerte knapp zehn Minuten und enthielt Schlagzeugtöne in unterschiedlicher Klangfarbe und Intensität. Bei der zweiten Version veränderten die Forschenden das Timing der Trommelrhythmen, sodass der Takt in den Tonfolgen nicht mehr im selben Zeitabstand, sondern unregelmäßig auftrat.
In der ersten Version hören Erwachsene einen Takt oder „Beat“ aus dem Rhythmus heraus, wie frühere Studien mit ähnlichem Versuchsaufbau bei Erwachsenen zeigten. In der zweiten ist für uns Menschen hingegen kein rhythmischer Beat hörbar, über die Reihenfolge der Töne aber teils erlernbar. Das erkennen Forschende daran, dass unser Gehirn besondere Signale produziert, wenn der erwartete Takt nicht eingehalten wird und dass sich diese Signale zwischen den beiden Klangsequenzen unterscheiden.
Hirnsignale von Säuglingen
Diese beiden Tonsequenzen haben Háden und seine Kollegen nun 27 Neugeborenen jeweils dreimal über spezielle Kopfhörer vorgespielt, während diese schliefen. Die Tests fanden innerhalb der ersten sechs Tage nach der Geburt statt, mit Einwilligung der Eltern. Um die neuronale Reaktion der Säuglinge auf die Musik zu sehen, haben die Wissenschaftler während der Tests mit einem EEG-Gerät die Gehirnwellen der Neugeborenen gemessen.
Mit diesem Versuchsaufbau wollten Háden und seine Kollegen herausfinden, ob Neugeborene den Beat erkennen und ob sie diesen aus der Reihenfolge der Töne erst erlernen müssen oder schon von Geburt an in der Lage sind, einen Puls zu erkennen.
Unser Taktgefühl ist angeboren
Die EEG-Aufnahmen zeigten, dass die Neugeborenen genau wie Erwachsene den Beat nur in der ersten Klangsequenz heraushörten, also nur dann, wenn der Takt in identischen Zeitabständen auftrat. Bei unregelmäßigen Taktabständen in der Tonfolge nahmen die Säuglinge den Beat ebenfalls genau wie Erwachsene nicht wahr, berichten die Forschenden. Die Hirnsignale der Babys, die nach einem erwarteten, aber fehlenden „Beat“ auftreten, unterschieden sich aber von denen der Erwachsenen.
Das deutet den Wissenschaftlern zufolge darauf hin, dass die Neugeborenen weder in der ersten noch in der zweiten Klangversion den Takt aus der Reihenfolge der Töne lernen, ihn bei der ersten Version aber direkt erkennen können. Daraus schließen sie, dass es sich bei der Beat-Erkennung um eine angeborene Fähigkeit handelt. „Dieser entscheidende Unterschied bestätigt, dass das Hören des Beats angeboren ist und nicht einfach das Ergebnis erlernter Klangsequenzen“, erklärt Koautor István Winkler vom TTK. Das schließe nicht aus, dass Babys Tonfolgen erlernen können. Bei Geburt erkennen sie den Beat jedoch offenbar auf andere Weise.
Wie wichtig ist Musik für uns Menschen?
Die Erkenntnisse geben einen ersten Einblick in die frühe Geräuschwahrnehmung von uns Menschen. Unklar bleibt jedoch vorerst, welche biologischen Mechanismen der Beat-Erkennung zugrunde liegen. Weitere Studien sind nötig, um mehr über die kognitiven Fähigkeiten von Säuglingen zu erfahren und detaillierter herauszufinden, welche Rolle musikalische Fähigkeiten in der frühen Entwicklung spielen.
Aber auch für Erwachsene sind die neuen Erkenntnisse nicht unwesentlich. „Die meisten Menschen können den Takt in der Musik leicht erkennen und beurteilen, ob die Musik schneller oder langsamer wird“, sagt Honing. Diese Fähigkeit ermöglicht es uns, gemeinsam zu tanzen und Musik zu machen, und ist damit kein triviales Phänomen, ergänzt er. „Tatsächlich kann die Taktwahrnehmung als eine grundlegende menschliche Eigenschaft angesehen werden, die eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung unserer Fähigkeit zur Musik gespielt haben muss“, schließt Honing aus den neuen Erkenntnissen. (Cognition, 2023; doi: 10.1016/j.cognition.2023.105670)
Quelle: Universität Amsterdam