Zunge als Personalausweis: Unsere Zungen unterscheiden sich offenbar ähnlich stark voneinander wie unsere Fingerabdrücke, wie eine Studie enthüllt. Demnach zeigen Form und Muster der knospenförmigen Geschmackspapillen auf der Zunge größere individuelle Eigenheiten als bislang gedacht. Die Zunge ist damit nicht nur ein eindeutiges Erkennungsmerkmal, sie könnte in Zukunft vielleicht auch dabei helfen, personalisierte Ernährungspläne zu entwickeln und Mundkrebs frühzeitig zu erkennen, wie die Forschenden in „Nature“ berichten.
Unsere Zunge ist ein anatomisches Wunderwerk. Sie hilft uns beim Sprechen, Schmecken und sogar beim Riechen. Möglich ist dieses Multitasking durch hunderte von kleinen Knospen an der Zungenoberfläche: die sogenannten Papillen. Man unterscheidet vor allem zwischen den halbkugelförmigen fungiformen Papillen, in denen unsere Geschmacksknospen stecken, und den kronenförmigen filiformen Papillen, mit deren Hilfe unsere Zunge verschiedene Texturen „erfühlen“ kann.
Ob und wie sich Form und Anordnung der verschiedenen Papillen von Mensch zu Mensch unterscheiden, war bislang allerdings unklar.
Zunge rausstrecken für die Wissenschaft
Das liegt vor allem daran, dass die Oberfläche unserer Zunge selbst unter dem Mikroskop nur schwer zu kartieren ist. Denn während sich die rund 900 Mikrometer großen, spärlich auf der Zunge verteilten fungiformen Papillen noch verhältnismäßig gut mit bloßem Auge erkennen lassen, wird es bei den filiformen schon deutlich schwieriger. Diese sind mit etwa 350 Mikrometer Durchmesser einerseits viel kleiner und treten andererseits in größeren Gruppen auf. Man schätzt, dass ein Quadratzentimeter menschlicher Zunge bis zu 200 filiforme Papillen beherbergt.
Um die menschliche Zunge dennoch verlässlich zu kartieren, haben Forschende um Rayna Andreeva von der University of Edinburgh nun erstmals auf die Unterstützung einer künstlichen Intelligenz gesetzt. Sie trainierten sie mit gut 2.000 dreidimensionalen Scans von 15 verschiedenen Zungen. Das KI-Tool lernte, die darauf erkennbaren Papillenformen auseinanderzuhalten, und lieferte so die Grundlage für einzelne „Zungenkarten“. Zum Schluss sollte das Programm außerdem versuchen, nur anhand einer einzelnen Papille Geschlecht, Alter und Identität eines Probanden vorherzusagen.
So individuell wie ein Fingerabdruck
Das Ergebnis: Das KI-System schaffte es, die verschiedenen Papillentypen mit einer Genauigkeit von 85 Prozent zu identifizieren, und war damit besser als jeder Mensch, wie die Forschenden berichten. Als Andreeva und ihre Kollegen auf Basis der KI-Daten individuelle Zungenkarten ihrer Testpersonen erstellten, zeigte sich jedoch Überraschendes. Denn die Karten offenbarten, dass die Papillen bei jedem der 15 Versuchsteilnehmer höchst individuell geformt und angeordnet waren.
Die Struktur der menschlichen Zunge ist demnach ähnlich einzigartig und individuell wie unsere Fingerabdrücke, die sich ebenso von Mensch zu Mensch unterscheiden. Das bestätigte auch ein Test: Zeigte man der KI nur eine einzige Papille, konnte das Programm diese mit einer Genauigkeit von rund 48 Prozent ihrem korrekten Besitzer zuordnen. „Das ist der erste Beweis dafür, dass Papillen als eindeutiger Identifikator fungieren“, erklären Andreeva und ihr Team. „Wir waren überrascht, zu sehen, wie einzigartig diese mikrometergroßen Merkmale für jedes Individuum sind“, ergänzt Seniorautor Rik Sarkar, ebenfalls von der University of Edinburgh.
Frauen haben „spitze“ Zungen
Form und Anordnung der Papillen auf unserer Zunge variieren jedoch nicht wahllos, sondern folgen bestimmten Mustern. So konnte die künstliche Intelligenz anhand eines einzelnen Papillen-Scans zum Beispiel mit einer Genauigkeit von 67 Prozent das Geschlecht einer Person vorhersagen und das Alter mit 75 Prozent. Es gibt demnach bestimmte Zungenstrukturen, die diesen Grundeigenschaften zugeordnet sind und die sich über individuelle Unterschiede hinaus wiederholen.
Konkret zeigte sich beispielsweise, dass sowohl fungiforme als auch filiforme Papillen bei Frauen und jüngeren Menschen etwas spitzer geformt sind als bei Männern und Älteren. Andreeva und ihre Kollegen vermuten, dass diese spitze Form einer von mehreren Gründen sein könnte, warum Frauen und Kinder im Schnitt einen stärker ausgeprägten Geschmackssinn besitzen als Männer und ältere Menschen.
Zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten
Die individuelle Zungenstruktur zu kennen, könnte in Zukunft womöglich großen Mehrwert bringen, wie die Forschenden erklären. So könnten sich irgendwann zum Beispiel allein anhand der Zungenoberfläche individuelle Lebensmittelvorlieben ermitteln und daraus dann passgenaue gesunde Ernährungsprogramme entwickeln lassen, die den Betroffenen auch wirklich schmecken. Gleichzeitig könnte die Überwachung der Zungenstruktur auch eine frühe Diagnose von wuchernden Erkrankungen wie Mundkrebs ermöglichen, erklären Andreeva und ihr Team.
Doch die Zunge ist wahrscheinlich nicht das einzige menschliche Gewebe, das sich durch individuelle Strukturen auszeichnet. „Wir planen daher nun, diese Technik, die KI mit Geometrie und Topologie kombiniert, zur Identifizierung mikroskopisch kleiner Merkmale auf anderen biologischen Oberflächen einzusetzen. Dies kann bei der Früherkennung und Diagnose ungewöhnlicher Wucherungen in menschlichem Gewebe helfen“, kündigt Sakar an. (Scientific Reports, 2023; doi: 10.1038/s41598-023-46535-9)
Quelle: University of Edinburgh