Blind Spots aufgedeckt: Forschende haben erstmals kartiert, wie umfassend der Mensch die Ozeane für die Schifffahrt und stationäre Anlagen wie Ölplattformen, Windparks und Co nutzt. Die in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlichte Seekarte belegt, dass bei weitem nicht alle Schiffe ihre Routen offenlegen und offizielle Register daher immense Datenlücken aufweisen. Demnach agieren etwa drei Viertel der industriellen Fangschiffe und ein Viertel der Logistikschiffe ohne offizielles Tracking ihrer Fahrwege. Das erschwert das Umweltmonitoring, aber auch der Industrie selbst das weitere Vorgehen.
Auf den Weltmeeren fahren täglich tausende Schiffe umher, transportieren dabei 80 Prozent aller gehandelten Güter und ernähren und rund eine Milliarde Menschen. Wo genau sich die Schiffe befinden und welchen Routen sie folgen, ist aber nur in Teilen erfasst. Denn nicht alle übermitteln während der Fahrt ihre Position über spezielle Transponder oder werden von öffentlichen Überwachungssystemen erfasst.
Die Ursachen dafür sind vielfältig: Je nach Heimathafen, Größe und Zweck des Schiffs sind die Besatzungen oft nicht verpflichtet, ihre Koordinaten an Meldestellen zu übermitteln. Teilweise erschwert schlechter Empfang die freiwillige Übertragung. Illegal tätige Reedereien verheimlichen oder verfälschen ihre Fahrwege aber möglicherweise auch absichtlich. Ebenso müssen Regierungen nicht offenlegen, an welchen Positionen sich Schiffe befinden. Und auch die Lage von Industrieanlagen auf dem offenen Meer wie Ölplattformen oder Windräder wird von den Betreibern in der Regel nicht öffentlich bekannt gegeben.
Datenlücke führt zu Blackbox
Durch diese Umstände gibt es keine genauen Angaben darüber, wo der Mensch überall ins Ökosystem Ozean eingreift. Zwar gibt es Karten von Küstengebieten, die menschliche Abwässer aufzeigen, aber keine Seekarte über die direkte Meeresindustrie. Das schränkt die weitere Nutzung der Meere als Transportweg sowie Energie- und Nahrungsquelle ein und erschwert der marinen Industrie die Abschätzung, wie sich verschiedene Schiffe und Offshore-Energieanlagen gegenseitig beeinflussen.
Zugleich behindert die Datenlücke das Umweltmonitoring. Unter anderem erschwert das Unwissen die Einschätzung, wie viele Treibhausgase, Feinstaub und andere Schadstoffe Schiffe ausstoßen, welche Auswirkungen die marine Industrie auf Wasserkreisläufe, Küsten und Anwohner hat und wie sich die Fischbestände entwickeln. Mehr Daten wären etwa für gezielte Klimaanpassungen, Umweltschutz und Maßnahmen gegen Überfischung hilfreich, wo eine hohe Dunkelziffer vermutet wird.
Neue Seekarte aus Satellitendaten rekonstruiert
Ein Team um Fernando Paolo von der Global Fishing Watch in Washington DC hat diese Datenlücke nun teilweise geschlossen. Die Wissenschaftler analysierten dafür über 67 Millionen Satellitenbilder aus dem Zeitraum von 2017 bis 2021 sowie bekannte GPS-Signale und rekonstruierten daraus mittels Deep-Learning-Modellen die Fahrrouten von Schiffen und die Position von mariner Infrastruktur. Die Bilder decken vor allem Küstenregionen ab, weil diese industriell am stärksten genutzt werden, und beleuchten insgesamt etwa 15 Prozent der Weltmeere. Nicht erfasst wurden allerdings Schiffe, die kleiner als 15 Meter sind. Dafür reichte die Auflösung der Satellitendaten nicht aus.
Wo fahren die meisten Schiffe?
Die Analysen ergaben, dass zu jedem Zeitpunkt des Untersuchungszeitraums im Schnitt rund 63.000 Schiffe auf den Weltmeeren unterwegs waren, die allermeisten davon in Asien (67 Prozent). Knapp die Hälfte aller Schiffe waren der Studie zufolge Fischerboote, der Rest Transport- und Energieschiffe wie Tanker und Frachter.
Allerdings: Rund drei Viertel der Fischerboote und rund ein Viertel der Schiffe im Frachttransport und Energiebereich waren nicht öffentlich erfasst und können daher mit herkömmlichen Systemen nicht getrackt werden, wie Paolo und sein Team berichten. Ihr Anteil an der Schifffahrt und ihre Fahrwege sind damit auf der neuen Seekarte erstmals erfasst worden.
Die meisten dieser zuvor unerfassten Schiffe waren rund um Indonesien, Südasien, Südostasien und im Norden und Westen Afrikas unterwegs, viele auch in Meeresschutzzonen, wie die Karte offenbart. Das kann auf illegale Aktivitäten in diesen Gegenden hinweisen, aber auch an schlechtem Empfang in diesen Arealen liegen, wie die Forschenden betonen.
Illegale Fischerei und Folgen der Corona-Pandemie
Das Meeresareal mit der insgesamt höchsten Dichte an Fangschiffen lag überraschend westlich von Nordkorea, wie die Karte zeigt. Aus diesem Bereich war zuvor keinerlei Fischerei bekannt. Auffälligerweise waren die Fischer dort immer im Mai besonders aktiv, wenn in den benachbarten chinesischen Gewässern nicht gefischt werden darf, berichten die Forschenden.
Mit Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 waren weltweit insgesamt rund zwölf Prozent weniger Fangschiffe unterwegs, wie die Auswertung zeigte. Bis Ende 2021 nahm ihre Zahl zwar weltweit wieder zu, erreichte jedoch nicht das Vor-Corona-Niveau, wie die Forschenden berichten. Auf das Schifffahrtsaufkommen im Transport- und Energiesektor hatte die Pandemie hingegen keine Auswirkungen.
Mehr Offshore-Windräder als Ölplattformen
Die neue Kartierung liefert auch Informationen über stationäre Anlagen auf See. Demnach befanden sich Ende 2021 rund 28.000 Offshore-Industrieanlagen in dem untersuchten Meeresareal, wie die Satellitenbilder zeigten. 48 Prozent davon dienten der Gewinnung von Windenergie, 38 Prozent der Förderung von Erdöl aus dem Meeresboden. Die übrigen 14 Prozent waren Anlagen wie Pfeiler, Brücken, Stromleitungen und Aquakulturen.
Demnach befinden sich auf dem Meer inzwischen mehr Windräder als Ölplattformen. Im untersuchten Zeitraum verdoppelte sich auch die Zahl der Offshore-Windanlagen, während Ölplattformen nur um rund 16 Prozent zunahmen, wie Paolo und seine Kollegen analysierten. Die meisten Windräder auf dem Meer stehen demnach in Nordeuropa und China.
Besseres Monitoring in Sicht
Künftig könnte die jetzt vorgestellte Seekarte noch ausgeweitet werden und die von Paolo und seinen Kollegen entwickelte Technik von interessierten Regierungen und Firmen frei genutzt werden, schreiben die Datenwissenschaftler Konstantin Klemmer von Microsoft und Esther Rolf von der Harvard University in einem begleitenden Kommentar zur Studie. Damit könnten etwa Küstengebiete oder Industrieanlagen überwacht und illegale Fischerei aufgedeckt werden. (Global Fishing Watch, 2024; doi: 10.1038/s41586-023-06825-8)
Quelle: Global Fishing Watch