Wie linke und rechte Hand: Sogenannte chirale Strukturen mit spiegelbildlichen Konfigurationen können offenbar auch aus nicht-chiralen Vorstufen entstehen, wie Physiker in „Nature Communications“ berichten. Demnach belegen Streifenmuster in einem Flüssigkristall dessen chiralen Aufbau, der jedoch nur bei einer bestimmten Fließgeschwindigkeit zustande kommt. Die Erkenntnis widerlegt ein gängiges Paradigma und eröffnet die Chance, ganz neue Materialien herzustellen.
Zwei Gegenstände oder Moleküle, die nahezu identisch, aber spiegelbildlich und damit nicht deckungsgleich sind, nennen Wissenschaftler „chiral“. Ein gängiges Beispiel dafür sind unsere Hände, weswegen manchmal auch von „Händigkeit“ gesprochen wird. In der Natur ist diese geometrische Konfiguration allgegenwärtig und beispielsweise für die spiralförmige Struktur der DNA verantwortlich. Auch die Wirkstoffe vieler Medikamente beruhen auf Molekülen, die nur in einer ihrer beiden chiralen Varianten ihre heilende Wirkung entfalten.
Bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass diese Chiralität in der Natur nur aus Chiralität hervorgehen kann. Das heißt, dass sich neue chirale Strukturen nur aus entsprechend händig strukturierten Bausteinen ergeben können, die in der Natur vorkommen.
Wie entsteht Chiralität?
Ein Forschungsteam um Qing Zhang vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat nun untersucht, ob dieses Paradigma wirklich immer gilt. Dafür analysierten sie einen speziellen Flüssigkristall auf Wasserbasis – ein Material, das wie eine Flüssigkeit fließt, aber eine kristallähnliche Molekülstruktur wie ein Feststoff aufweist. Flüssigkristalle sind von Natur aus nicht-chiral. Der untersuchte Kristall enthielt stäbchenförmige Molekülstrukturen, die normalerweise gleichmäßig in dieselbe Richtung ausgerichtet sind.
Die Forschenden interessierte bei ihren Versuchen primär, ob und wann solche Materialien spontan Muster bilden. Dafür testeten sie verschiedene Bedingungen, unter anderem unterschiedliche Fließgeschwindigkeiten, und betrachteten dabei die Flüssigkeit unter dem Mikroskop. Mit dem Wissen wollten sie Flüssigkristalle optimieren. Diese werden unter anderem in LCD-Displays für hochauflösende Bilder verwendet.
Tigerstreifen in Flüssigkristall beobachtet
Das überraschende Ergebnis: Wenn die Flüssigkeit langsam durch den Testapparat floss, begann sie sich zu tigerähnlichen Streifen zu formen, wie die Mikroskopbilder offenbarten. Ihre nanometergroßen Stäbchen-Strukturen veränderten sich dann spontan und verdrehten sich wie winzige Propeller, wobei sich jeder etwas mehr drehte als der vorherige, wie das Team erklärt. Dadurch fügten sich die verdrehten Kristallstrukturen zu millimetergroßen, chiralen Spiralen zusammen, die unter dem Mikroskop als Streifen erschienen.
„Der Effekt ist, als ob ein Förderband mit symmetrisch ausgerichteten Wachsmalstiften sich plötzlich in große, spiralige Muster umwandelt, sobald das Band eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht“, beschreibt Zhang die geometrische Transformation des Kristalls. In Folgeversuchen fanden er und seine Kollegen heraus, dass diese Muster deswegen entstanden, weil die Flüssigkeit bei dieser Geschwindigkeit ein Gleichgewicht zwischen Viskosität und Elastizität erreichte. „Wenn diese beiden Kräfte in etwa gleich sind, sehen wir diese Spiralmuster“, erklärt Koautorin Irmgard Bischofberger vom MIT.
Chiralität entsteht auch in nicht-chiralen Materialien
Der anfangs nicht-chirale Flüssigkristall entwickelte unter bestimmten Umständen demnach tatsächlich eine chirale Konfiguration. „Es war überraschend, dass überhaupt eine Struktur entstand, aber noch überraschender war es, als wir feststellten, welche Art von Struktur es war“, sagt Bischofberger. Demnach kann Chiralität auch in einem völlig nicht-chiralen Material und auf nicht-chirale Weise entstehen, schließen die Forschenden und widerlegen damit die bisherige Annahme. „Auf fundamentaler Ebene ist dies eine neue Möglichkeit, wie Chiralität entstehen kann“, sagt Bischofberger.
Diese Erkenntnisse eröffnen einen neuen Ansatz, um gezielt Materialien mit chiralen Strukturen herzustellen. „Das gibt uns eine einfache Möglichkeit, diese Arten von Flüssigkeiten zu strukturieren“, sagt Bischofberger. Die chiralen Strukturen könnten beispielsweise als spiralförmige Gerüste dienen, in denen komplexe molekulare Strukturen zu Arzneimitteln zusammengebaut werden könnten, so die Forschenden. Darüber hinaus ermögliche das neue Verfahren Materialien mit speziellen Eigenschaften, die zum Beispiel besonders mit Licht interagieren und damit als optische Sensoren dienen könnten.
Die Bandbreite der möglichen Anwendungen ist groß. „Wir freuen uns darauf, diesen ganz neuen Phasenraum zu erkunden“, sagt Bischofberger. (Nature Communications, 2024; doi: 10.1038/s41467-023-43978-6)
Quelle: Massachusetts Institute of Technology