Virale Helfer: Unser Erbgut enthält Überreste uralter Retroviren, die sich vor hunderten Millionen Jahren in die DNA unserer tierischen Vorfahren integriert haben. Eine Studie zeigt nun, dass diese Virengene eine wichtige Rolle bei der frühen Embryonalentwicklung spielen: Sie regulieren den Übergang der ersten embryonalen Zellen zur Pluripotenz und ermöglichen so ihre weitere Entwicklung – auch bei uns Menschen. Fehlt dieser virale Umschalthelfer, scheitert die Schwangerschaft schon kurz nach der Befruchtung
Rund zehn Prozent unseres Erbguts stammen ursprünglich von Viren. Diese endogenen Retroviren (ERVs) entstanden, als urzeitliche Erreger ihre DNA ins Erbgut ihrer Wirte integrierten – angefangen bei den ersten Tieren vor mehr als 500 Millionen Jahren. Dieses genetische Erbe früherer Infektionen hat sich bis heute erhalten – auch im Genom des Menschen. Viele dieser viralen Überreste werden zwar nicht mehr abgelesen, einige sind aber bis heute aktiv.
Welche Auswirkungen die Viren-DNA in unserem Genom hat, ist bislang nur in Ansätzen verstanden. So gibt es Hinweise darauf, dass sie das Risiko für Krankheiten wie Demenz und Multiple Sklerose erhöhen können. Andererseits scheinen manche Virenreste vor Krebs zu schützen und das Muskelwachstum bei Männern zu fördern.
Von der Totipotenz zur Pluripotenz
Ein Team um Sergio de la Rosa vom Spanischen Nationalen Krebsforschungszentrum (CNIO) in Madrid ist nun auf eine weitere hilfreiche Funktion der endogenen Retroviren gestoßen: Sie regulieren einen entscheidenden Schritt in der Embryonalentwicklung. Nach der Befruchtung teilt sich die Eizelle zunächst in zwei Zellen, die beide totipotent sind. Sie können sich noch zu allen Zelltypen des Körpers differenzieren und einen eigenständigen Organismus entwickeln.
Damit aus diesen Zellen der Embryo und das ihn umgebende Gewebe entstehen können, müssen sie jedoch von der Totipotenz zur Pluripotenz übergehen. Dann können sie sich zwar noch zu jedem beliebigen Gewebe des Körpers differenzieren, sind aber festgelegt, ob sie den Embryo oder das extraembryonale Begleitgewebe wie Fruchtblase und Plazenta bilden. Gesteuert wird dieser Übergang von mehreren sogenannten Pluripotenzfaktoren – Proteinen, die die Zelle für ihr zukünftiges Schicksal umprogrammieren.
„Die Mechanismen, die die Stabilität der Pluripotenzfaktoren steuern, waren bislang aber unbekannt“, schreiben de la Rosa und sein Team.
Fein abgestimmte Regulation
Durch Versuche mit Mäusen sind de la Rosa und sein Team nun diesen Mechanismen auf die Spur gekommen – und haben festgestellt, dass endogene Retroviren dabei eine wichtige Rolle spielen. „Wir haben einen neuen Mechanismus entdeckt, wie ein endogenes Retrovirus die Pluripotenzfaktoren direkt steuert“, berichtet de la Rosas Kollege Nabil Djouder.
Eine wichtige Rolle spielt demnach ein Gen namens URI. Dessen Genprodukt bindet an die Pluripotenzfaktoren und sorgt so dafür, dass sie in Aktion treten. Ohne URI kann sich der Embryo nicht weiterentwickeln. Doch wie wird URI reguliert, damit es die Pluripotenzfaktoren genau zum richtigen Zeitpunkt aktiviert?
Protein vom endogenen Virus als Umschalthilfe
Hier kommen die Virenfragmente ins Spiel. De la Rosa und sein Team stellten fest, dass bei Mäusen ein virales Protein namens MERVL-gag während des Zweizellstadiums einer befruchteten Eizelle verstärkt produziert wird. Das Gen für dieses Protein stammt von einem endogenen Retrovirus, hat aber bei Säugetieren eine entscheidende Rolle beim Umschalten der Embryozellen übernommen. „Dieses Protein bindet an URI und verhindert die Interaktion mit den Pluripotenzfaktoren“, erklären die Forschenden.
Dadurch bleiben die Zellen die erforderliche Zeit im totipotenten Zustand. Erst nach und nach werden die MERVL-gag-Proteine abgebaut, sodass schließlich URI die Pluripotenzfaktoren aktivieren und stabilisieren kann. „MERVL-gag sorgt für einen fließenden Übergang“, erklärt de la Rosa. Fehlt dagegen dieser Einfluss der endoviralen Proteine, bleibt der Embryo im Zweizellstadium stecken, wie Versuche mit Mäusen ergaben. „Dies hat dann potenziell das frühe Absterben des Embryos zur Folge“, berichtet das Team.
Aktiv auch beim Menschen
Die Studie zeigt zudem, dass MERVL-gag mit URI in einer Region des Erbguts interagiert, die sich im Laufe der Evolution kaum verändert hat und auch beim Menschen ähnlich ist. Die Forschenden gehen deshalb davon aus, dass der gleiche Mechanismus auch die frühe Embryonalentwicklung des Menschen reguliert. „Unsere Ergebnisse zeigen eine symbiotische Koevolution von endogenen Retroviren mit ihren Wirtszellen, um den reibungslosen und rechtzeitigen Ablauf der frühen Embryonalentwicklung zu gewährleisten“, schreibt das Forschungsteam.
Interessant auch: Das Wissen um den Einfluss der endogenen Retroviren könnte bei der Stammzellforschung und -züchtung helfen. Denn wenn man die Aktivität des URI-Gens mithilfe des endoviralen Proteins manipuliert, könnte das die Kultivierung embryonaler Stammzellen erleichtern. „Dies eröffnet einen vielversprechenden Weg, um stabilere, mit erweiterten Entwicklungsfähigkeiten ausgestattete embryonale Stammzellen zu züchten“, erklären de la Rosa und seine Kollegen. (Science Advances, 2024, doi: 10.1126/sciadv.adk9394)
Quelle: Centro Nacional de Investigaciones Oncológicas (CNIO)