Materialforschung

Alternde Materialien beim „Ticken“ ertappt

Physiker messen erstmals die sich verändernde "Materialzeit" von Glas, Kunststoff und Co

Lasermessung
Diese Laserapparatur und die eingespannte Probe halfen Physikern dabei, das molekulare "Ticken" alternder Materialien zu beobachten. © Til Böhmer

Molekulares Ticken: Physikern ist es erstmals gelungen, das molekulare Altern von nichtkristallinen Materialien wie Glas und Kunststoff live zu beobachten und zu messen. Typisch für dieses Altern ist das immer langsamere „Ticken“ der Materialzeit – die Moleküle verändern nicht mehr so schnell ihren Platz im Ensemble. Diesen Effekt haben die Forschenden nun erstmals nachgewiesen, wie sie in „Nature Physics“ berichten. Dabei entdeckten sie jedoch auch ein überraschendes, nicht von der Theorie erfasstes Phänomen.

In Glas, Kunststoffen und anderen amorph strukturierten Materialien sind die Moleküle ständig in Bewegung: Immer wieder wechseln sie ihre Position im ungeordneten Molekülgewirrr und streben dabei langfristig den energetisch günstigsten Zustand an. Dadurch verändern sich die Materialeigenschaften mit der Zeit – das Material altert. Bei Fensterglas kann das Milliarden Jahre dauern, bei Kunststoffen geht dies jedoch meist schneller.

Das molekulare „Ticken“ von Glas und Co

Das Interessante jedoch: Diese physikalische Alterung von nichtkristalllinen Materialien lässt sich durch die so genannte „Materialzeit“ beschreiben. Nach diesem in den 1970er Jahren aufgestellten Konzept verändert sich auch das Tempo der materialinternen Umlagerungen mit zunehmendem Alter und der Temperatur. „Man kann sich die Materialzeit wie eine Uhr vorstellen, deren Ticken sich verlangsamt, wenn das Glas altert“, erklären Till Böhmer von der Technischen Universität Darmstadt und seine Kollegen.

Doch ob dieses Konzept des molekularen „Tickens“ der Realität entspricht, blieb unklar – es fehlte der experimentelle Beweis. „Den Molekülen kann man nicht so einfach beim Zappeln zusehen“, sagt Seniorautor Thomas Blochowicz von der TU Darmstadt. „Dafür sind höchst präzise Messungen nötig, die erst mit Hilfe neuester Videokameras möglich wurden.“ Solche zeitlich und räumlich hochauflösenden Bildsensoren haben die Forschenden nun genutzt, um der Materialzeit auf die Schliche zu kommen. „Das war eine große experimentelle Herausforderung“, ergänzt Böhmer.

Streuungsmuster enthüllt Fluktuationen

Für ihr Experiment nutzten die Physiker das sogenannte Dynamic Light Scattering (DLS), eine lasergestützte Messung der Lichtstreuung. Dabei wird die Materialprobe – in diesem Fall ein glasartiges Polymer und der synthetische Ton Laponit – mit einem polarisierten Laserstrahl angeleuchtet. Die Moleküle im Material streuen dieses Licht und erzeugen ein spezifisches, von einem hochauflösenden Bildsensor eingefangenes Streuungsmuster. Dieses verrät die Positionen und Bewegungen der Moleküle.

Um die Testproben altern zu lassen, setzten die Forschenden sie einer Reihe standardisierter Temperatursprünge aus. Sie verglichen dann, wie sich das Muster der molekularen Fluktuationen im Laufe des Experiment s veränderte. Dafür wurden die Helligkeitswechsel jeder einzelnen Pixelposition analysiert. Für den Nachweis der Materialzeit spielte dabei die zeitliche Autokorrelation eine entscheidende Rolle – die Frage, ob die Taktrate der Wechsel im Laufe der Zeit gleich bleibt oder sich systematisch verändert.

Materialzeit bestätigt – aber nicht nur

Das Ergebnis: Das Experiment belegte, dass das Konzept der Materialzeit gültig ist. In allen untersuchten Materialien konnten Böhmer und sein Team tatsächlich eine Veränderung des molekularen „Tickens“ nachweisen. Wie vor rund 50 Jahren vorhergesagt, drückt die Tickrate demnach aus, wie stark das Material gealtert ist.

Doch die Messungen enthüllten auch Fluktuationen, die sich überraschend verhielten. „Diese Fluktuationen sind zwar eindeutig irreversibel, wenn man sie als Funktion der normalen Zeit beschreibt. Aber wenn man sie als Funktion der Materialzeit betrachtet, sind sie statistisch reversibel“, berichten die Physiker. Anders ausgedrückt: Wenn man die Materialzeit rückwärts ticken lässt, sehen diese Wechsel genauso aus wie beim normalen Verlauf des Material-Tickens – ähnlich wie im Video eines Pendels, das vorwärts und rückwärts abgespult gleich aussieht.

Bisher nicht in Theorien zur Materialalterung erfasst

Was aber bedeutet dies? „Das heißt nicht, dass sich das Altern von Materialien umkehren lässt“, betont Böhmer. Stattdessen demonstrieren die Experimente, dass es neben der irreversiblen Umlagerung der Moleküle in den Materialien noch weitere, Materialzeit-reversible Prozesse gibt. Diese tragen aber nicht zur Alterung bei. Die Physiker vergleichen dies mit dem Herumtollen von Kindern auf der Rückbank eines fahrenden Autos: Ihre Bewegungen ändern nichts an der Fortbewegung des Autos.

Aber dennoch sei das Phänomen neu: „Uns ist kein theoretisches Modell bekannt, das die in Bezug auf die Materialzeit umkehrbaren Fluktuationen beim Altern beschreibt“, schreiben Böhmer und sein Team. „Der klassische Tool-Narayanaswamy-Formalismus enthält keine Vorhersagen für solche Fluktuationen.“ Dennoch zeigte sich dieses Phänomen sowohl bei Glas als auch bei Kunststoff und auch in einer Computersimulation.

„Daraus ergibt sich ein riesiger Sack offener Fragen“, sagt Blochowicz. So sei etwa zu klären, inwieweit die beobachtete Umkehrbarkeit bezüglich der Materialzeit auf die Umkehrbarkeit der physikalischen Naturgesetze zurückzuführen ist oder wie sich das Ticken der inneren Uhr für verschiedene Materialien unterscheidet. Die Physiker wollen dranbleiben. (Nature Physics, 2024, doi: 10.1038/s41567-023-02366-z)

Quelle: Technische Universität Darmstadt

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