Kein Zufall: Vier von fünf Betroffene von Autoimmunerkrankungen sind Frauen – aber warum? Den Grund dafür hat nun ein genauerer Blick auf das doppelte X-Chromosom des weiblichen Geschlechts enthüllt: Damit nicht beide X-Chromosomen aktiv sind, wird eines mithilfe eines Proteinkomplexes stummgeschaltet. Doch dieser Xist-Komplex verleitet das Immunsystem häufig zur Überreaktion, wie Forschende in „Cell“ berichten.
Ob Rheuma, systemischer Lupus erythematosus, Multiple Sklerose oder Zöliakie: Bei einer Autoimmunerkrankung kämpft das Immunsystem gegen eigene Gewebe und Zellen. Fehlgeleitete Antikörper und Abwehrzellen verkennen dabei körpereigene Strukturen als fremd und greifen sie an. Die Folge sind chronische Entzündungen und im Extremfall fortschreitende Zerstörungen von Organen und Geweben.
Blockiertes X-Chromosom
Merkwürdig nur: Frauen sind von Autoimmunerkrankungen weit stärker betroffen als Männer – bei einigen Krankheiten liegt das Verhältnis sogar bei 19:1. Aber warum? Bisher sind die Gründe dafür nicht eindeutig geklärt. Deshalb ist ein Team um Diana Dou von der Stanford University einem speziellen Verdacht nachgegangen: Sie haben sich die Geschlechtschromosomen genauer angeschaut und im Speziellen den Mechanismus, durch den bei Frauen eines ihrer zweifach vorhandenen X-Chromosomen deaktiviert wird.
Dieses weitgehende Stummschalten des überschüssigen X-Chromosoms sorgt dafür, dass die auf diesem Chromosom kodierten Proteine nicht im Übermaß produziert werden. Bei Frauen geschieht dies schon während der Embryonalentwicklung. Der entscheidende „Ausschalter“ dafür ist Xist, ein langes RNA-Molekül, das vom X-Chromosom selbst erzeugt wird, sobald zwei X-Chromosomen in einer Zelle präsent sind. Dann lagert sich das Xist-Molekül zusammen mit Dutzenden Proteinen an eines der beiden X-Chromosomen an und blockiert so das Ablesen seiner Gene.
Test mit „verweiblichten“ Mäusemännchen
Das Entscheidende jedoch: „Mehrere der mit Xist verknüpften Proteine haben sich in früheren Studien bereits als Autoantigene erwiesen“, berichten Dou und ihre Kollegen. Ob jedoch dieser „Stummschalter“ des zweiten X-Chromosoms dadurch tatsächlich eine Autoimmunerkrankung auslösen kann, blieb unklar. Um das zu klären und um dabei Störeinflüsse von Hormonen und anderen spezifisch weiblichen Faktoren auszuschließen, haben die Forschenden einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ansatz genutzt: Sie wählten männliche Mäuse als Versuchsobjekte.
Diesen schleusten sie die Bauanleitung für ein Xist-Gen ein, das auch in Abwesenheit eines zweiten X-Chromosoms aktiv wird. Außerdem war es so modifiziert, dass für die Mäusemännchen lebensnotwendige Gene auf dem X-Chromosom nicht blockiert wurden. Um eine Autoimmunreaktion bei den Mäusen zu provozieren, injizierten Dou und ihr Team ihnen eine Substanz, die für ihre Lupus-auslösende Wirkung bei weiblichen Mäusen bekannt ist. Bei normalen Mäusemännchen wirkt sie hingegen kaum. Würden die manipulierten Mäusemännchen dennoch erkranken?
Xist-Komplex provoziert Autoimmunreaktion
Die Versuche ergaben: Die Mäusemännchen mit dem manipulierten Xist-Gen erkrankten tatsächlich an Lupus erythematosus und zeigten dabei deutlich schwerere Symptome und Organschäden als Kontrolltiere ohne die Genmanipulation. Ihre Krankheitsrate entsprach der, die normalerweise bei Weibchen beobachtet werden, wie Dou und ihr Team berichten.
Nähere Analysen zeigen zudem, dass die manipulierten Mäusemännchen Auto-Antikörper sowie bestimmte T- und B-Abwehrzellen gegen den Xist-Komplex ausbildeten. Diese Abwehrreaktion ähnelte der von Mäuseweibchen mit systemischem Lupus erythematosus. „Damit haben wir gezeigt, dass die Expression von Xist-Ribonukleo-Proteinkomplexen zu Autoimmunerkrankungen beiträgt“, berichten Dou und ihr Team.
Ähnlicher Ablauf beim Menschen
Beim Menschen scheint der Xist-Komplex eine ganz ähnliche Rolle zu spielen. Denn in ergänzenden Untersuchungen bei Lupus-Patientinnen entdeckten die Forschenden ebenfalls Auto-Antikörper und Abwehrzellen, die gegen den Xist-Molekülkomplex gerichtet waren. Zum Ausbruch kommt die fehlgeleitete Immunreaktion jedoch nur, wenn bestimmte genetische Veranlagungen für Autoimmunerkrankungen dazukommen, wie das Team betont.
„Jede Zelle im Körper einer Frau hat Xist“, erklären Dou und ihr Team. Unter normalen Umständen triggert dies zwar Veränderungen bei den T-Zellen des Immunsystems, reicht aber nicht aus, um aggressive Autoantikörper und Zellzerstörungen auszulösen. „Gibt es jedoch einen begünstigenden genetischen Hintergrund, dann kann die Präsenz des Xist-Molekülkomplexes multiple Abwehrzellen aktivieren und voll ausgeprägte Organschäden verursachen.“
Noch gibt es zwar kein Medikament gegen diesen Mechanismus. Die neuen Erkenntnisse könnten aber helfen, gezielt Wirkstoffe gegen bestimmte, nur gegen Xist gerichtete Antikörper oder B-Abwehrzellen zu entwickeln, wie die Forschenden erklären. (Cell, 2024; doi: 10.1016/j.cell.2023.12.037)
Quelle: Stanford Medicine