Biologie

Tschernobyl: Fadenwürmer trotzen radioaktiver Strahlung

Nematoden in der Sperrzone zeigen erstaunlich wenig DNA-Mutationen

Fadenwürmer
Diese Fadenwürmer stammen aus der radioaktiv verseuchten Sperrzone von Tschernobyl. Dennoch zeigen sie keine DNA-Schäden oder Mutationen.© Sophia Tintori

Resistente Winzlinge: In der Sperrzone von Tschernobyl leben winzige Fadenwürmer, die selbst hohe radioaktive Belastung scheinbar unbeschadet überstehen. DNA-Analysen der bodenlebenden Nematoden ergaben, dass viele dieser Würmer von Natur aus relativ immun gegen die mutagene Strahlung sind. Offenbar besitzen sie DNA-Reparaturmechanismen, die die strahlungsbedingten Schäden besonders effizient beseitigen können. Das könnte auch Ansätze für die Medizin liefern.

Im April 1986 explodierte ein kompletter Reaktorblock im Atomkraftwerk von Tschernobyl und verursachte einen radioaktiven Fallout in halb Europa. Bis heute ist die strahlende Atomruine eine Todeszone und auch in der und 2.200 Quadratkilometer großem Sperrzone rund um das Kraftwerk gibt es bis heute stark radioaktiv belastete Stellen. Dennoch sind schon kurz nach dem Atomunfall zahlreiche Wildtiere in das verseuchte Gebiet zurückgekehrt – mit teilweise erstaunlich wenig Folgen.

Probensammeln in Tschernobyl
Forscherin sammelt Nematoden-Proben in der Tschernobyl-Sperrzone – der Geigerzähler ist immer dabei.© Matthew Rockman

„Die Katastrophe vom Atomkraftwerk von Tschernobyl hat die umgebende Region in die radioaktivste Landschaft der Welt verwandelt“, erklären Sophia Tintori von der New York University und ihre Kollegen. „Aber hat dieser plötzliche Wechsel der Umweltbedingungen die Arten oder auch Individuen innerhalb einer Spezies begünstigt, die von Natur aus resistenter gegenüber ionisierender Strahlung sind? Das ist eine offene Frage.“

Fadenwurm-Jagd in der Sperrzone

Um mehr über die Auswirkungen der radioaktiven Verseuchung auf die tierischen Lebenswelt zu erfahren, haben Tintori und ihr Team sich besonders kleinen Bewohnern der Sperrzone gewidmet: bodenlebenden Fadenwürmern. „Diese Würmer leben überall und sind sehr kurzlebig“, erklärt Tintoris Kollege Matthew Rockman. „Deswegen durchlaufen sie Dutzende von Generationen in der Zeit, in der ein typisches Wirbeltier gerade erst in die Gänge kommt.“

Der Vorteil daran: Anhand dieser Würmer lassen sich evolutionäre Vorgänge quasi im Schnelldurchlauf mitverfolgen. Tintori und ihr Team sammelten dafür Nematoden der Art Oscheius tipulae aus unterschiedlich stark radioaktiv verseuchten Bereichen der Sperrzone und untersuchten sie auf Zellschäden und DNA-Mutationen hin. Dadurch konnten sie ermitteln, ob beispielsweise Fadenwürmer aus stark belasteten Böden genetische Besonderheiten aufwiesen.

Kaum Mutationen oder DNA-Schäden

Das überraschende Ergebnis: Die DNA der Fadenwürmer aus Tschernobyl zeigte keine Spuren von Mutationen oder anderen durch die radioaktive Strahlung verursachten Veränderungen. „Das bedeutet nicht, dass Tschernobyl ungefährlich ist“, betont Tintori. „Es zeigt eher, dass die Nematoden sehr widerstandsfähige Tiere sind, die selbst extremen Bedingungen standhalten können.“ Aber warum? Um das herauszufinden, züchteten die Forschenden die Tschernobyl-Nematoden in Labor weiter und setzten sie dabei gezielt mutagenen Substanzen aus.

Erneut zeigte sich Erstaunliches: Die verschiedenen Fadenwurm-Linien reagierten zwar unterschiedlich sensibel auf die DNA-schädigende Belastung. Diese Anfälligkeit gegenüber Mutations-verursachenden Umwelteinflüssen war aber unabhängig davon, wo in der Sperrzone diese Würmer zuvor gelebt hatten. Anders ausgedrückt: „Es gab keinerlei Belege für einen Zusammenhang zwischen der radioaktiven Belastung an ihrem Fundort und ihrer Anfälligkeit für Mutationen“, berichtet das Team.

Probenorte
Probenorte in der Sperrzone und Höhe der radioaktiven Belastung an den Probenstandorten.© Sophia Tintori

Von Natur aus tolerant

Das bedeutet: Einige Fadenwürmer der Art Oscheius tipulae haben offenbar von Natur aus eine hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber radioaktiver Belastung und anderen erbgutschädigenden Einflüssen. Dies könnte damit zusammenhängen, dass sie besonders effiziente DNA-Reparaturmechanismen besitzen. „Jetzt, wo wir wissen, welche Stämme dieser Nematodenart sensibler oder toleranter gegenüber DNA-Schäden sind, können wir dies nutzen, um genauer zu untersuchen, warum das so ist“, erklärt Tintori.

Klar scheint aber: Eine direkte Anpassung an das Lebens in radioaktiv belasteten Böden scheint nicht dahinter zu stehen. Denn die Resistenz der Nematoden gegenüber mutagenen Einflüssen war unabhängig davon, ob diese Fadenwürmer und ihre Vorfahren in radioaktiven Hotspots der Sperrzone lebten oder nicht. Zudem zeigten auch Nematoden derselben Art aus ganz anderen Regionen der Welt ähnliche Toleranz gegenüber Mutagenen, wie das Team feststellte.

Tintori und ihr Team schließen daraus, dass die Widerstandsfähigkeit der Fadenwürmer aus Tschernobyl wahrscheinlich nicht das Ergebnis einer in der Sperrzone wirkenden gezielten Selektion war. Stattdessen scheinen einige Exemplare dieser Fadenwürmer diese unabhängig davon zu entwickeln.

Wertvolle Erkenntnisse auch für die Medizin

Nach Ansicht der Forschenden liefern ihre Ergebnisse wertvolle Hinweise darauf, warum selbst Organismen einer Art unterschiedlich anfällig auf erbgutschädigende Einflüsse reagieren. „Dies könnte uns auch helfen, unsere eigenen Risikofaktoren klarer zu sehen“, sagt Tintori. Denn auch bei uns Menschen scheinen einige Individuen anfälliger für krebsauslösende Mutationen zu sein als andere.

Weitere Untersuchungen der Fadenwürmer und ihrer Toleranz gegenüber Erbgutschäden könnten verraten, welche biomolekularen und zellulären Prozesse dahinterstecken. Sollte es diese Mechanismen dann auch bei uns Menschen geben, könnte dies der Krebsforschung zugute kommen – und beispielsweise helfen, das Krebsrisiko einzelner Menschen besser vorsagen zu können. (Proceedings of the National Academy of Science,2024; doi: 10.1073/pnas.231479312)

Quelle: New York University

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