„Eine alte Inschrift! Mein König, wir haben endlich eine alte Inschrift gefunden!“ Sichtlich erregt und vor Freude strahlend, eilte Nabu-zerlischir, oberster Schriftgelehrter am königlichen Hof, dem babylonischen Herrscher Nabonid entgegen. Nabonid war nach Norden in die Stadt Sippar gereist, um sich ein Bild vom Fortgang der Bauarbeiten am Hauptheiligtum des Sonnengottes Schamasch zu machen.
Das Stein-Artefakt von der Tempelbaustelle
Einige Woche zuvor hatten die Arbeiter mit dem Abräumen des alten Mauerwerks begonnen und man war nun auf der Suche nach den frühesten Tempelfundamten, über denen der Neubau des Heiligtums errichtet werden sollte. Nabu-zer-lischir hielt Nabonid ein Objekt aus schwarzem Stein entgegen. Der König nahm es entgegen und betrachtete es von allen Seiten. Es war etwa ellenlang und im Querschnitt kreuzförmig.
„Seht, mein König, die Inschrift verläuft über alle Seiten. Die Zeichenformen sind alt, sehr alt, aber ich kann sie noch lesen. Hier“, Nabu-zer-lischir deutete mit dem Zeigefinger auf eine der oberen Kanten des Objekts, „beginnt die Inschrift. Die erste Zeile ist beschädigt, aber in der zweiten Zeile ist ‚Sohn des Sargon‘ zu lesen.“ „Dann muss es Naram-Sin sein!“, unterbrach Nabonid den Gelehrten. „Ja, ganz recht, mein König. Es ist eine Inschrift des Naram-Sin.“
Inschriften aus dem alten Akkad?
Ein Raunen ging durch die Gruppe von Höflingen und Bediensteten, die den Austausch verfolgt hatten. „Die Form ist höchst ungewöhnlich“, kommentierte Nabonid seine Inspektion des Gegenstands. „Ja, mein König, sie bestätigt das Alter der Inschrift, und wir haben nun Gewissheit, die Fundamente des Naram-Sin gefunden zu haben.“ „Dann soll nun mit dem Neubau begonnen werden“, verkündete Nabonid. „Lasst Bauurkunden anfertigen, die von der heutigen Entdeckung berichten. Wir wollen sie so bald wie möglich feierlich niederlegen. Bereitet alles für die Durchführung der Baurituale vor!“
Dieser Dialog zwischen dem letzten babylonischen König Nabonid (555–539 v. Chr.) und seinem Gelehrten Nabu-zer-lischir ist zwar rein fiktional. Er stützt sich aber auf Angaben aus Bauinschriften Nabonids und auf die Existenz des im Dialog erwähnten Objekts, das sogenannte Cruciform Monument. Dieses gut 20 Zentimeter hohe, kreuzförmige Steingebilde mit eingeritzten Inschriften wurde in der antiken Stadt Sippar, in der Nähe der irakischen Hauptstadt Bagdad, bei Ausgrabungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts gefunden.
Der Baubericht des babylonischen Königs
Der Bericht zum Neubau des Tempels des Sonnengottes Schamasch in Sippar ist auf einem neubabylonischen Tonzylinder in Keilschrift überliefert. Der Text dieses Zylinders bietet eine ausführliche Darstellung der Vorbereitung und Durchführung des Baus. Protagonist der Erzählung ist, wie bei mesopotamischen Bauinschriften üblich, der Herrscher. In diesem Fall war dies König Nabonid, der im sechsten Jahrhundert vor Christus durch Usurpation, deren genauere Umstände nicht bekannt sind, an die Macht gelangte.
Der babylonische König berichtet im Text von der Entdeckung von Bauurkunden des Naram-Sin und dem Neubau des Tempels auf den alten Fundamenten. Naram-Sin war ein Herrscher der Dynastie von Akkad, die fast 2.000 Jahre vor dem neubabylonische Herrscher Nabonid über Mesopotamien herrschte. Bereits im frühen 2. Jahrtausend v. Chr. kursierten legendäre Erzählungen über diese Akkad-Herrscher, die auch noch zur Zeit Nabonids im Umlauf waren und das Interesse des Königs an Naram-Sin erklären.
Doch was hat es mit diesem beschrifteten Kreuzstein auf sich?