Neurowissenschaften

Warum uns Übelkeit den Appetit verschlägt

Neu entdeckte Zellen im Gehirn steuern Reaktion auf Ekel, Stress oder Seekrankheit

Maus mit Übelkeit
Kein Appetit trotz reichlich Futter: Wenn Mensch und Maus übel ist, hemmt das den Appetit. Aber warum? © MPI für biologische Intelligenz / Julia Kuhl

Ob Ekel, Krankheit oder schwankendes Schiffsdeck: Wenn uns übel ist, vergeht uns der Appetit. Was dabei im Gehirn passiert, haben nun Neurobiologen entschlüsselt – und dabei einen zuvor unerkannten Mechanismus entdeckt. Demnach feuern bei Übelkeit spezielle Zellen in der Amygdala und senden appetithemmende Signale an Areale im gesamten Gehirn. Selbst großer Hunger kann ihr Stoppsignal kaum durchbrechen. Doch diese Neuronen bewirken noch mehr als nur Appetitverlust, wie das Team in „Cell Reports“ berichtet.

Es gibt einiges, das uns den Appetit verschlagen kann: Starker Stress, eine Infektion oder auch Reiseübelkeit und der Anblick von etwas Ekligem können uns „auf den Magen schlagen“ und Übelkeit auslösen. Wir bringen dann kein Essen mehr hinunter, selbst wenn wir eigentlich hungrig sind. Dem Körper verschafft die Essenspause dadurch Zeit und Ressourcen, um sich auf die unmittelbaren Probleme zu konzentrieren.

Doch wodurch wird der typische Appetitverlust bei Übelkeit ausgelöst? Zwar sind die Hirnareale und Schaltkreise bekannt, durch die unser Gehirn das normale Sättigungs- und Hungergefühl reguliert. Doch ob sie auch dafür verantwortlich sind, dass uns die Übelkeit den Appetit verdirbt, war unklar.

Wenn Mäusen übel ist

Um diese Frage zu klären, haben Wenyu Ding vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz in Martinsried und ihre Kollegen sich eine Hirnregion näher angeschaut: die Amygdala. Sie ist ein wichtiges Zentrum für die Verarbeitung von Emotionen, darunter vor allem der Angst. Im zentralen Teil dieses Hirnareals liegen aber auch Neuronen, die die Sättigung steuern. Doch welche davon feuern auch bei Übelkeit? Und wie weit reichen diese Signale?

Für ihr Experiment lösten Ding und ihr Team bei Mäusen mithilfe einer Chemikalie künstlich Übelkeit aus und beobachten dann unter anderem mithilfe von Fluoreszenzmarkern und Elektroden, wie verschiedene Neuronengruppen in der zentralen Amygdala reagierten. Zusätzlich testeten sie das Verhalten der Mäuse: Fraßen diese bei Übelkeit weniger, obwohl sie zuvor gefastet hatten? Wie beeinflusste die Übelkeit ihr Verhalten?

Ganz neue Art von Neuronen entdeckt

Es zeigte sich Überraschendes: Neben den schon bekannten Sättigungsneuronen in der Amygdala gibt es eine weitere Art von Hirnzellen in diesem Hirnareal. Diese sogenannten Dlk1-Neuronen feuern jedoch nicht bei Sättigung, sondern bei Übelkeit: „Wir haben herausgefunden, dass diese Neuronen durch übelkeitsauslösende Mittel, Bitteraromen und durch Verstimmungen des Magen-Darmtrakts aktiviert werden“, berichtet das Forschungsteam. Dafür erhalten diese Neuronen Signale von vielen Hirnregionen, darunter auch denjenigen, die Ekel und unangenehme Gerüche verarbeiten.

Wenn diese neu entdeckten Hirnzellen feuern, blockieren ihre Signale selbst starkes Hungergefühl: Hungrige Mäuse hörten auf zu fressen und sogar zu trinken, wenn diese Dlk1-Neuronen in ihrem Gehirn künstlich angeregt wurden. Im Gegenzug führte das Ausschalten der Dlk1-Zellen in der Amygdala dazu, dass die Mäuse sogar aßen, wenn ihnen übel war. Nach Angaben von Ding und ihrem Team belegt dies, dass es im Gehirn von Maus und Mensch einen speziellen Schaltkreis und eigene Hirnzellen für den Appetitverlust durch Übelkeit gibt.

Mehr als nur Appetitlosigkeit

Doch das ist noch nicht alles: Wie das Team herausfand, sind diese Appetitstopper-Zellen auch ungewöhnlich breit vernetzt. Während die schon bekannten Sättigungsneuronen hauptsächlich benachbarte Zellen innerhalb der Amygdala ansteuern, senden die Ausläufer der Dlk1-Zellen hemmende Signale selbst in weit entfernte Gehirnregionen. Dieser Hemmeffekt reicht dadurch sogar bis in den sogenannten parabrachialen Nucleus, einer zentralen Schnittstelle zwischen Kleinhirn und Hirnstamm.

Das hat Folgen, die über eine bloße Appetitlosigkeit hinausgehen – und auch typische Verhaltensweisen von uns Menschen bei Übelkeit erklären könnten: War den Mäusen übel, reagierten sie weniger sozial als sonst und suchten seltener den Kontakt zu Artgenossen. „Diese Effekte gehen aber nicht auf Ängstlichkeit oder veränderte Bewegung zurück“, erklären Ding und ihr Team. Stattdessen sind die Signale der von Übelkeit aktivierten Dlk1-Neuronen schuld.

Die Entdeckung dieses speziellen Appetitblocker-Schaltkreises liefert damit wertvolle Erkenntnisse dazu, welche Effekte Übelkeit in unserem Gehirn auslöst und welche Neuronen und Schaltkreise daran beteiligt sind. Gleichzeitig gibt es neue Einblicke in die komplexe Regulation unseres Appetits und Essverhaltens. (Cell Reports, 2024; doi: 10.1016/j.celrep.2024.113990)

Quelle: Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz

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