Forscher / Entdecker

Das Erbe der „Hildegard-Medizin“

Wissenschaftlerin, Naturheilerin oder Kräuterhexe?

Männliche Klosterbewohner erhielten von den Benediktinern im Mittelalter eine breit gefächerte Ausbildung in verschiedenen Disziplinen. Neben kirchlicher Liturgie waren dies vor allem Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik und Grammatik. „Als Frau blieb Hildegard der sich in den sieben freien Künsten verdichtende Bildungskanon der Zeit größtenteils verschlossen“, sagt der Historiker Ralf Lützelschwab.

Hildegard von Bingen kam demnach zwar nicht in den Genuss dieser typischen Kloster-Bildung, lernte jedoch lesen und schreiben, beherrschte Latein und hatte Zugang zu wissenschaftlichen Quellen. Dadurch wurde sie zumindest teilweise in das höhere Wissen ihrer Zeit eingeweiht, wie Historiker aus ihren Schriften schließen. „Ihr Bildungshorizont war weiter und ging deutlich über Bibelkenntnisse und die Beherrschung des Psalters hinaus“, so Lützelschwab.

Heilkräutergarten im Hildegard-Forum der Kreuzschwestern auf dem Rochusberg bei Bingen am Rhein
Heilkräutergarten im Hildegard-Forum der Kreuzschwestern auf dem Rochusberg bei Bingen am Rhein; entstanden 1998 zum 900. Gedächtnisjahr der heiligen Hildegard von Bingen. © Marion Halft/CC-by 4.0

Bücher über Natur- und Heilkunde

Dadurch war Hildegard auch in naturwissenschaftlichen Belangen durchaus bewandert. Sie kannte die großen Bücher der Natur- und Pflanzenheilkunde aus Ägypten und Griechenland sowie die mittelalterlichen Standardwerke der Arzneikunde. Jedes Kloster hatte zudem einen Garten. Neben ihren theologischen Schriften verfasste Hildegard zwischen 1151 und 1158 selbst ein natur- und ein heilkundliches Werk, deren Originale jedoch nicht erhalten sind.

Das erste, die Physica, handelt den erhaltenen Abschriften nach von den (vermeintlichen) medizinischen Eigenschaften von Kräutern, Bäumen, Tieren, Edelsteinen und Metallen. Das zweite Buch, Causae et curae („Ursachen und Behandlungen“), beschreibt die göttliche Schöpfung, die Natur und den menschlichen Körper. Darin berichtet sie auch von der Entstehung, Diagnostik und Behandlung einzelner Krankheiten. Die Inhalte dieser beiden Bücher sind allerdings keine selbst gewonnenen Erkenntnisse, sondern eher Zusammenfassungen des damaligen Forschungsstands über Medizin und Biologie. Sie war damit eher eine Gelehrte denn eine Wissenschaftlerin.

Manuskript von Hildegard von Bingen
Manuskript von Hildegard von Bingen. Neben ihren theologischen Schriften verfasste sie auch ein natur- und ein heilkundliches Werk. © Sailko/CC-by 3.0

Anders als ihre Zeitgenossen nutzte Hildegard von Bingen in ihren Büchern allerdings deutsche statt nur lateinische Pflanzennamen und strukturierte das medizinische Wissen so, dass auch Laien es anwenden konnten. Die Inhalte beschrieb sie bildhaft, detailliert und nüchtern und wurde so auch zur Wissensvermittlerin. „Außerdem hat Hildegard bei der Ernährung als eine der ersten Autorinnen auch die heimischen Pflanzen erwähnt und nicht nur – wie in der griechisch-römischen Antike – mediterrane Pflanzen“, erklärt Tobias Niedenthal, der zu Klostermedizin forscht, gegenüber dem Portal katholisch.de.

Verknüpfung von Wissen und Glauben

Zugleich verknüpfte Hildegard von Bingen die rationalen Erkenntnisse der Wissenschaft und das Kräuterwissen der Klostermedizin und brachte so medizinische Traditionen mit dem Heilwissen aus dem Volk zusammen. Ihr Kloster wurde auch dadurch zum wichtigsten medizinischen Zentrum der Region. Hildegard verband zudem das Heilwissen mit ihrem Glauben und predigte eine ganzheitliche Medizin und Ernährung, die neben Körper und Geist auch die „Seele“ umfasst. Für die damalige Zeit war das nicht unüblich. Sie vertrat darüber hinaus die Ansicht, der Mensch werde geheilt, wenn er in Harmonie mit den Kräften des Kosmos und Gottes Schöpfung lebe, und verband damit Vorstellungen aus der Antike mit dem christlichen Mittelalter.

Bild von Hildegard von Bingen in einem Garten
Die „Hildegard-Medizin“ basiert unter anderem auf Heilpflanzen. © Mefusbren69 / gemeinfrei

Aufgrund ihrer natur- und heilkundlichen Bücher gilt Hildegard heute vielen als Ernährungsexpertin und Heilerin, manchen auch als Ärztin. Angesichts ihrer fundierten Kenntnisse des damaligen Wissensstands ist dies durchaus gerechtfertigt. Es steht jedoch im Widerspruch zu Hildegards eigenen Angaben, sie habe ihr Wissen über die Heilwirkung von Pflanzen, Kräutern und Gewürzen durch göttliche Visionen erhalten statt durch empirische Erkenntnisse.

Diese zurückhaltende Darstellung als „ungebildet“ und Gottes Sprachrohr bedient Hildegard von Bingen in ihren Schriften wiederholt. Warum sie sich so präsentierte, ist nicht abschließend geklärt. Historikern zufolge liegt der Grund wahrscheinlich in ihrer Rolle als Nonne und der damaligen untergeordneten gesellschaftlichen Stellung der Frau, deren Gedanken und Talente weit weniger Anklang fanden als „göttliche Eingebungen“.

Gesundheitstipps bis heute gültig?

Obwohl Hildegard von Bingen bereits vor fast 850 Jahren gestorben ist, ist ihre Naturlehre heute noch präsent. Zahlreiche Gesundheitsanbieter werben mit Heilverfahren und Produkten in ihrem Namen: von Kräutertee, Gewürzen und Fastenkuren über Kräuterpackungen, Massagen und Kosmetik bis zum Aderlass und der Schröpftherapie. Angeboten wird die ganzheitliche „Hildegard-Medizin“ oft als Alternative zur modernen Medizin.

Tatsächlich haben sich einige der Gesundheitsratschläge und Behandlungstraditionen aus Hildegards Büchern nach heutigem Stand der Wissenschaft als hilfreich und wirksam herausgestellt. Dazu zählt beispielsweise das Fasten oder die gesundheitsfördernde und heilende Wirkung einzelner Pflanzen und Kräuter. „Pflanzen, die sie bei Erkältung empfiehlt, können wir heute sehr gut noch einsetzen. Das sind Ingwergewächse wie Galgant, aber auch der Fenchel“, sagt Niedenthal.

Andere Methoden, wie der Aderlass und heilsame Edelsteine, waren im Mittelalter zwar gängige Praxis, werden heute jedoch nicht mehr durchgeführt oder angewendet, weil sie eine medikamentöse Behandlung nicht ersetzen können.

Wie viel Hildegard steckt in Hildegard-Produkten?

Nur weil für eine Behandlung oder ein Produkt mit „Hildegard von Bingen“ beworben wird, muss es daher nicht unbedingt wirksam sein. Oft ist es eher ein spirituell orientiertes Angebot. „Hildegard ist zum personifizierten Rundum-Wohlfühlversprechen avanciert“, sagt Matthias Schmandt. Allerdings sind die Zutaten der heutigen Hildegard-Medizin nicht immer original mittelalterlich. „Leider sind solche Produkte sehr oft nicht authentisch“, sagt Tobias Niedenthal. „Im Gegenteil – ich wäre grundsätzlich immer kritisch und würde etwa über Wikipedia nachprüfen, ob die jeweilige Pflanze im 12. Jahrhundert in Europa überhaupt schon verfügbar war.“

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. weiter
Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Hildegard von Bingen – Visionärin des Mittelalters
Wer war die berühmte Nonne und Gelehrte vom Rhein?

Die Nonne, die zur Heiligen wurde
Ein Leben im Dienst der Kirche

Äbtissin mit politischem Gespür
Wie weit reichte das Netzwerk der Hildegard von Bingen?

Das Erbe der „Hildegard-Medizin“
Wissenschaftlerin, Naturheilerin oder Kräuterhexe?

Hildegard, die Dichterin und Komponistin
Kirchenlieder mit ungewöhnlichen Noten

Diaschauen zum Thema

News zum Thema

keine News verknüpft

Dossiers zum Thema

Alchemie - Forscher entschlüsseln die geheimen Rezepte der Alchemisten