Familienbande: Archäologen haben anhand alter DNA aus europäischen Gräbern die Lebensweise der Awaren untersucht – einem frühmittelalterlichen Steppenvolk, über das bislang nur wenig bekannt war. Die Genome offenbaren die soziale Organisation und familiären Beziehungen dieser aus Zentralasien stammenden Gemeinschaften über mehrere Generationen hinweg und zeigen auch eine Machtverschiebung zwischen einzelnen Familien auf.
Vor über 1.000 Jahren, im frühen Mittelalter beherrschte die Volksgruppe der Awaren die Steppen Europas. Aus dem östlichen Zentralasien kommend dominierten diese einstigen Nomaden vom sechsten bis zum neunten Jahrhundert nach Christus weite Teile des östlichen Mitteleuropas. Über ihr Leben ist jedoch heute weit weniger bekannt als über ihre direkten Vorgänger, die Hunnen.
Aus rund 100.000 bisher untersuchten Gräbern und aus schriftlichen Berichten ihrer damaligen Nachbarvölker haben Archäologen bereits erste Informationen über die Bestattungsbräuche der Awaren, ihre sozialen Praktiken und Lebensweisen rekonstruiert. So wissen wir heute, dass einige Nomadengruppen der Awaren zwischen 567 und 568 nach Christus aus der ostasiatischen und pontischen Steppe in das Karpatenbecken in Europa kamen. Dort wurden sie sesshaft, bis sie schließlich um 800 nach Christus von den Franken um Karl den Großen verdrängt wurden.
Wie lebten die Awaren?
Allerdings stammen die Berichte über die Völker der Awarenzeit von ihren westlichen Feinden, vor allem den Byzantinern und den Franken. Darin sind entsprechend nur Außensichten und keine internen Informationen über die Organisation der Awaren-Clans enthalten. Vor allem über das Leben der Awaren-Frauen ist praktisch nichts bekannt.
Dadurch sind noch viele Fragen offen: Haben die Awaren die Traditionen der nomadischen Steppenvölker in ihrer neuen Heimat in Europa aufrechterhalten? Wie interagierten die Neuankömmlinge aus dem Osten untereinander und mit der europäischen Bevölkerung? Wie veränderte sich die Lebensweise der Awaren im Laufe der Zeit in der neuen Umgebung?
Erbgut offenbart Verwandtschaftsbeziehungen
Ein Forschungsteam um Guido Alberto Gnecchi-Ruscone vom Max-Planck-Institut (MPI) für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist dem nun nachgegangen. Das Team aus Genetikern, Archäologen, Anthropologen und Historikern kombinierte verschiedene Methoden, um mehr über die Awaren zu erfahren. Unter anderem bestimmten sie mit neuen Isotopenanalysen das Alter der Gräber und untersuchten mit Techniken der Bioinformatik darin gefundene alte DNA (aDNA).
Dafür sammelten sie alle menschlichen Überreste und Grabbeigaben von vier komplett ausgegrabenen Friedhöfen aus der Awarenzeit im heutigen Ungarn und untersuchten das darin erhaltene Erbgut. Die DNA stammte von insgesamt 424 Menschen. Die Forschenden rekonstruierten deren Verwandtschaftsbeziehungen bis zum zehnten Grad und erstellten damit detaillierte Stammbäume.
Männer-basierte Heiratsregel
Die Analysen – vor allem der Y-Chromosomen und mitochondrialen DNA – ergaben, dass die begrabenen Personen häufig miteinander verwandt waren. 298 der Toten hatten mindestens einen nahen Verwandten auf demselben Friedhof. Insgesamt gehörten die Überreste zu 31 verschiedenen Familien. Der größte dieser Stammbäume umfasste 146 Personen aus neun Generationen und rund 250 Jahre.
Die familiären Beziehungen offenbarten, dass die Awaren ihre Gemeinschaften nach einem bestimmten Muster aufbauten: Während Männer nach der Heirat in ihrer Kommune blieben, verließen Frauen diese, um fortan in der Gemeinschaft ihrer Ehemänner zu leben, wie das Team berichtet. Die Heiratsregeln der Awaren schrieben demnach vor, dass Frauen Ehen außerhalb ihrer Gemeinschaft eingehen.
„In gewisser Weise zeigt dieses Muster die Rolle der Frauen bei der Förderung des Zusammenhalts dieser Gesellschaft; es waren die Frauen, die die einzelnen Gemeinschaften verbanden“, sagt Seniorautorin Zuzana Hofmanová vom MPI für evolutionäre Anthropologie. Zudem wurde so Inzucht strikt vermieden.
Nachkommen von verschiedenen Sexualpartnern
Zudem zeigten die Stammbäume: Männer zeugten bei den Awaren im Laufe ihres Lebens oft Kinder mit verschiedenen Frauen und Frauen bekamen häufig Kinder von verschiedenen Männern. Mehrere Beispiele belegen, dass dies auch miteinander verwandte Männer sein konnten – wie Brüder oder Vater und Sohn. „Diese Praktiken, zusammen mit dem Fehlen einer genetischen Blutsverwandtschaft [der Frauen innerhalb einer Gemeinschaft], deuten darauf hin, dass dieses Volk ein detailliertes Gedächtnis über seine Vorfahren bewahrte und über Generationen hinweg wusste, wer die biologischen Verwandten waren“, sagt Gnecchi-Ruscone.
Mit der lokalen Bevölkerung in Europa mischten sich die Awaren indes kaum und blieben eher unter sich, wie das Team berichtet. Diese sozialen Praktiken stehen im Einklang mit Erkenntnissen aus anderen historischen Quellen und anthropologischen Studien über eurasische Steppengesellschaften, wie Gnecchi-Ruscone und seine Kollegen berichten. Demnach lebten die Awaren in Europa weiterhin nach den hierarchischen Regeln ihrer Vorfahren zusammen.
Politischer Umbruch
An einem der untersuchten Standorte konnten die Forschenden zudem rekonstruieren, wie drei größere Familien zehn kleinere verdrängten. Dies zeigte sich in der genetischen Verschiebung von einer Familie zur anderen und in den Veränderungen der Muster entfernter Verwandtschaft gegen Ende des siebten Jahrhunderts. Dies deutet Gnecchi-Ruscone und seinen Kollegen zufolge auf eine damalige Machtverschiebung in dieser Region hin, wenngleich keine Beweise für einen gewaltvollen Übergang vorliegen.
Der Grund lag offenbar eher in der veränderten Ernährungsweise der dortigen Gesellschaft, weg von Hirse hin zu Fleisch und Milchprodukten, wie Isotopenanalysen nahelegen. „Dieser Austausch der Gemeinschaft spiegelt sowohl eine archäologische und ernährungsbedingte Verschiebung wider, die wir innerhalb der Stätte selbst entdeckt haben, als auch einen großflächigen archäologischen Übergang, der im gesamten Karpatenbecken stattfand“, sagt Koautorin Zsófia Rácz von der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest. (Nature, 2024; doi: 10.1038/s41586-024-07312-4)
Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, HistoGenes