Positiver Nebeneffekt eines berüchtigten Wirkstoffs: Varianten des Contergan-Wirkstoffs Thalidomid könnten dabei helfen, resistente Krebszellen zu bekämpfen. Denn diese Derivate des Thalidomids können an ein bei Tumorzellen aktives Protein binden und es als „Zellabfall“ markieren. Als Folge sterben diese Krebszellen ab. Dieses Prinzip könnte neue Chancen bieten, selbst resistente Tumoren effektiver zu bekämpfen.
Kaum ein Wirkstoff ist so bekannt und berüchtigt wie Thalidomid. Das Molekül ist der zentrale Inhaltsstoff des Schlafmittels Contergan, das in den 1960er-Jahren schwere Fehlbildungen bei neugeborenen Kindern verursachte – ihnen fehlten ganze Gliedmaßen. Heute ist bekannt, dass die im Medikament enthaltenen Form des Thalidomids sich an bestimmte Proteine anlagert und dadurch das zelluläre Selbstmordprogramm auslöst. Als Folge gingen wichtige Bildungszellen in den Embryos zugrunde und die entsprechenden Körperteile wurden nicht ausgebildet.
Molekularer Klebstoff für Proteine
„Wir wissen inzwischen, dass Thalidomid ein sogenannter molekularer Klebstoff ist“, sagt Seniorautor Xinlai Cheng von der Goethe-Universität Frankfurt. „Das heißt, der Wirkstoff hat die Fähigkeit, zwei Proteine zu greifen und so in Nähe zueinander zu bringen.“ Bei einem dieser Proteine handelt es sich um eine Art Etikettiermaschine: Es heftet dem anderen Protein ein Label an, auf dem in großen Lettern „muss entsorgt werden“ steht. Dieses Label wird von der zellulären Müllabfuhr erkannt: Sie ergreift das markierte Eiweißmolekül und schreddert es.
„Genau dieser Mechanismus ist es, der die verschiedenen Wirkungen von Thalidomid erklärt“, erklärt Cheng. „Je nachdem, welches Protein markiert wird, kann das bei der Embryonalentwicklung zu Fehlbildungen führen oder einen Tumor abtöten.“ Studien haben bereits gezeigt, dass Thalidomid durch diesen Prozess das Wachstum von Blutgefäßen unterbindet und so dabei helfen könnte, Tumoren von ihrer Nährstoffversorgung abzuschneiden.
Auslöser fürs Selbstmordprogramm im Visier
Das Team um Cheng und Erstautor Jianhui Wang hat nun eine weitere potenzielle Wirkung des Thalidomid-„Klebers“ auf Krebszellen untersucht. Ausgangspunkt war die „Etikettiermaschine“, fachsprachlich eine E3-Ligase namens CRBN. Das Team suchte gezielt nach einer chemischen Thalidomid-Variante, die dieses Enzym mit dem bei Krebszellen besonders aktiven Protein BCL-2 verbindet.
„Dieses Protein verhindert, dass das Selbstmord-Programm von Zellen aktiviert wird“, erklärt Cheng. „Wenn es fehlt, gehen die Zellen zugrunde.“ Normalerweise müsste die Entartung der Krebszellen genau diese Apoptose auslösen, doch durch Mutationen ist das schützende BCL-2-Protein in den Tumorzellen besonders aktiv. Die Forschende nutzten zunächst das KI-System AlphaFold, um vorherzusagen, welche chemische Modifikation das Thalidomid zum „Klebstoff“ für das BCL-2-Protein macht.
Wirkung selbst gegen resistente Krebszellen
„Wir sind dabei auf drei Derivate gestoßen, die dieses Zellprotein für den Abbau markieren können“, berichtet Cheng. Die Chemiker nutzten diese Modelle, um die Thalidomid-Derivate chemisch zu synthetisieren, und testeten anschließend deren Effekt auf Krebszellkulturen und Taufliegen mit Tumoren. Es zeigte sich, dass vor allem die C5 getaufte Variante das Absterben der Krebszellen und die Aktivierung ihres Selbstmordprogramms förderte. Auch die Taufliegen überlebten durch diese Behandlung signifikant häufiger, wie das Team berichtet.
Besonders interessant jedoch: „Diese Thalidomid-Derivate haben die Fähigkeit, auch die BCL-2-Mutationen zu degradieren, die gegen Venetoclax resistent sind“, schreiben die Forschenden. Dieses Chemotherapeutikum setzt ebenfalls an BCL-2 an und wird bereits gegen Leukämie eingesetzt. „In vielen Krebszellen ist BCL-2 aber mutiert, sodass Venetoclax das Protein nicht mehr hemmt“, sagt Cheng. „Wir konnten zeigen, dass unsere Derivate auch diese mutierte Form für den Abbau markieren.“
Vielversprechender Anfang
Nach Ansicht von Cheng und seinem Team demonstrieren diese Ergebnisse, dass Thalidomid-Analoga durchaus die Basis für neue, vielversprechende Wirkstoffe bilden könnten – gerade in der Krebsmedizin. „Sie zeigen, dass veränderte Thalidomid-Moleküle ein großes therapeutisches Potenzial haben“, sagt Chang. „Ob die Wirkstoffe sich irgendwann aber tatsächlich in der Praxis bewähren, lässt sich damit aber noch nicht sagen“, betont der Forscher. Noch handele es sich um Grundlagenforschung.
Dennoch sehen er und sein Team in solchen Derivaten des Contergan-Wirkstoffs eine Möglichkeit, die Krebsforschung voranzubringen. „Funde wie diese könnten dazu beitragen, künftig gezieltere Therapien für Krebspatienten zu entwickeln, vor allem in Fällen, die gegen vorhandene Mittel resistent sind“, so das Team. (Cell Reports Physical Science, 2024; doi: 10.1016/j.xcrp.2024.101960)
Quelle: Goethe-Universität Frankfurt am Main