Verborgene Akteure: Unter den tausenden Relikten alter Virengene in unserem Erbgut sind einige bis heute aktiv – und könnten psychische Krankheiten wie Schizophrenie, Depression und bipolare Störung mitverursachen, wie nun eine Studie enthüllt. In ihr identifizierten Forschende fünf solcher endogenen Retroviren mit signifikantem Anteil am Erkrankungsrisiko. Wie dieses „fossile“ Virenerbgut in uns dies genau bewirkt, muss noch geklärt werden, es könnte aber wertvolle Ansätze für Diagnose und Therapie bieten, so das Team.
Acht Prozent unseres Erbguts ist nicht menschlichen Ursprungs, sondern stammt von alten Viren. Es sind die genetischen Überreste von Infektionen, die unsere Vorfahre vor tausenden Jahren durchlebten. Lange galten diese humanen endogenen Retroviren (HERV) als inaktiver „DNA-Abfall“, inzwischen ist jedoch klar, dass diese genetischen Virenreste bis heute in uns aktiv sind. Einige sind hilfreich und fördern das Muskelwachstum, schützen vor Krebs oder helfen bei der Embryonalentwicklung. Andere dagegen stehen im Verdacht, Krankheiten wie Multiple Sklerose zu begünstigen.
HERV-Fahndung im Hirngewebe
Jetzt haben Rodrigo Duarte vom King’s College London und sein Team weitere negative Effekte dieser „blinden Passagiere“ in unserm Erbgut identifiziert. Dafür hatten sie die Genaktivität in Gewebeproben aus dem im Stirnbereich liegenden präfrontalen Cortex von knapp 800 Menschen mit und ohne psychiatrische Erkrankungen analysiert und die DNA-Sequenzen zusätzlich mit einer Genom-Datenbank tausender Vergleichspersonen abgeglichen. Dadurch konnten sie herausfinden, welche der aktiven Gene viralen Ursprungs sind.
Um nächsten Schritt untersuchten die Wissenschaftler, welche dieser HERVs bei Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, bipolarer Störung, Autismus oder Depression signifikant aktiver sind. „Wir wissen, dass diese Erkrankungen eine substanzielle genetische Komponente aufweisen“, sagt Duarte. „Wir haben nun spezifisch die zu endogenen Retroviren gehörenden Teile unseres Erbguts daraufhin untersucht.“
Fünf endogene Retroviren „ertappt“
Das Ergebnis: Insgesamt identifizierten Duarte und sein Team fast 5.000 aktive virale Gene im Gewebe des menschlichen Stirnhirns. Von diesen zeigten 26 Aktivitätsmuster, die mit psychischen Erkrankungen verknüpft waren. Fünf dieser endogenen Retroviren erwiesen sich dabei als besonders signifikant und einflussreich. „Zwei dieser HERV-Signaturen sind spezifisch für Schizophrenie, eine ist für Schizophrenie und bipolarer Störung signifikant und eine bei schwerer Depression“, berichten die Forschenden.
Nicht fündig wurden sie hingegen bei anderen psychischen Störungen wie Autismus oder der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Zwar identifizierten die Analysen sieben genetische Aktivitätssignaturen, die mit diesen Erkrankungen verknüpft sind, von diesem stammte aber keine von einem endogenen Retrovirus.
Mechanismen noch unklar
„Unsere Ergebnisse legen nahe, dass solche endogenen viralen Sequenzen wahrscheinlich eine größere Rolle im menschlichen Gehirn spielen als ursprünglich angenommen“, sagt Seniorautor Timothy Powell vom King’s College London. „Dabei sind spezifische HERV-Expressionsprofile mit einer erhöhten Anfälligkeit für bestimmte psychische Erkrankungen verknüpft.“
Noch ist allerdings nicht geklärt, über welche Mechanismen diese endogenen Retroviren das Risiko für Schizophrenie, Depression oder bipolare Störung erhöhen. Die Analysen legen aber nahe, dass dies auf einem relativ direkten Weg geschieht und nicht nur indirekt, beispielsweise über einen Effekt auf das Immunsystem und die Entzündungsanfälligkeit des Gewebes. „Unsere Resultate deuten darauf hin, dass die Expressions-Regulation dieser HERVs für die Hirnfunktion wichtig ist“, sagt Duarte.
Nach Ansicht der Forschenden könnten dies neue Ansätze für die Diagnose und Therapie der psychischen Erkrankungen bieten. „Ein besseres Verständnis dieser uralten Viren und der an psychischen Erkrankungen beteiligten Gene könnte die Erforschung mentaler Gesundheit revolutionieren und neue Wege eröffnen, solche Störungen zu behandeln oder zu diagnostizieren“, sagt Koautor Douglas Nixon von der Cornell University in New York. (Nature Communications, 2024; doi: 10.1038/s41467-024-48153-z)
Quelle: King’s College London