Wer würde den Herausforderungen einer menschenleeren Welt am ehesten trotzen können? Der britische Zoologe und Autor Richard Dawkins sieht an dieser Stelle die Ratten im Vorteil. In seinem Buch „Geschichten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren“ schreibt er: „Wenn ein Atomkrieg die Menschheit und die meisten anderen Lebewesen vernichtet, haben Ratten kurzfristig gute Überlebenschancen und langfristig die Chance auf eine evolutionäre Stammeslinie.“ Wahrscheinlich zusammen mit den Schaben, die als ebenso schussfest gelten.
Empathische Nager
Schon heute führen Ratten ein erfolgreiches Dasein in unserem Schatten. Dabei hilft ihnen unter anderem der Zusammenhalt in der Gruppe, denn Ratten gelten als sehr sozial und empathisch. In Experimenten befreien sie etwa fremde Artgenossen aus Käfigen und teilen anschließend Leckerlis mit ihnen. Ratten merken sich auch, wenn ein Artgenosse gut zu ihnen war, und revanchieren sich später mit Futter oder Fellpflege.
Ebenso sind Ratten überdurchschnittlich intelligent. Sie ärgern sich zum Beispiel über falsche Entscheidungen, besitzen Vorstellungskraft und können sogar verschiedene menschliche Sprachen auseinanderhalten.
Die Zukunft gehört den Abgehärteten
Doch wenn es darum geht, den Planeten zu übernehmen, kommen den Ratten ganz andere Eigenschaften zugute. Denn die kleinen Nager sind in hohem Maße resistent gegen Stress, Schadstoffe und Gift und vertragen außerdem eine Vielzahl von Lebensmitteln, die für viele andere Tiere unbekömmlich wären.
„Ich habe eine Post-Armageddon-Vision. Wir und alle anderen großen Tiere sind verschwunden. Nagetiere werden die ultimativen post-menschlichen Aasfresser sein. Sie nagen sich ihren Weg durch New York, London und Tokio, verdauen verschüttete Vorratskammern, Geistersupermärkte und menschliche Leichen und verwandeln sie in neue Generationen von Ratten und Mäusen, deren rasende Populationen aus den Städten heraus und in die Lande hinein explodieren“, so Dawkins.
Von Weideratten und Säbelzahnratten
Doch die Ratten in Dawkins‘ Zukunftsvision beherrschen unseren Planten nicht nur in ihrer heutigen Form, sondern könnten sich laut ihm innerhalb von nur fünf Millionen Jahren bereits zu einer Vielzahl weiterer Spezies diversifiziert haben. „Herden riesiger Weideratten werden von Säbelzahn-Raubratten verfolgt“, orakelt der Zoologe etwa.
Klingt dystopisch, ist aber nicht gänzlich an den Haaren herbeigezogen. Genauer gesagt ist es so ähnlich schon einmal passiert, denn alle modernen Säugetiere stammen von winzigen mausartigen Vorfahren ab, die einst im Schatten der Dinosaurier lebten. Als dann die urzeitlichen Reptilien ausstarben, hatten unsere Ahnen die Möglichkeit, verschiedenste frei gewordene Nischen zu besetzen. Aus nachtaktiven Mäusen wurden Raubkatzen, Elefanten, Delfine, Menschen und viele mehr.
Masse oder Klasse?
Gibt man modernen Ratten also genug Zeit und Raum zur Entfaltung, könnten auch diese sich diversifizieren und schließlich zur herrschenden Lebensform werden. Doch was bedeutet das eigentlich? „Wird sich mit der Zeit eine Art intelligenter, kultivierter Ratten entwickeln? Werden Nagetierhistoriker und Wissenschaftler schließlich sorgfältige archäologische Ausgrabungen in den Schichten unserer längst verdichteten Städte organisieren und die eigentümlichen und vorübergehend tragischen Umstände rekonstruieren, die den Ratten zum Durchbruch verhalfen?“, überlegt Dawkins.
Doch dann wären wir wieder an einem Punkt angelangt, an dem sich aus einem bestehenden Tier erst eine menschenähnliche Version entwickeln muss, um als wahrer Planetenherrscher zu zählen. Ein Blick auf dominante Spezies der Vergangenheit zeigt allerdings, dass das nicht der Fall sein muss. So könnte man etwa die Dinosaurier als herrschende Tiergruppe ihrer Zeit bezeichnen. Und als es noch gar kein mehrzelliges Leben gab, waren gewissermaßen die Bakterien an der Macht. Letztlich sind sie das immer noch – zumindest zahlenmäßig. Denn in gerade einmal acht Kubikzentimetern Erde leben so viele Bakterien wie es Menschen auf dem gesamten Planeten gibt.
Ein anderer Ansatz wäre also, bei der Suche nach den am besten angepassten Kandidaten nicht nur die spektakulärsten Lebensformen in Betracht zu ziehen, sondern auch unscheinbare Tiere, die unseren Planeten allein aufgrund ihrer schieren Masse beherrschen könnten.