Anzeige
Genetik

Übergewicht und Depressionen: Mediziner finden genetischen Zusammenhang

Gendefekt verursacht Fettleibigkeit und postpartale Depressionen

Erschöpfte oder traurige Mutter mit Säugling im Arm
Postpartale Depressionen und Fettleibigkeit können auf denselben Gendefekt zurückgehen. © kieferpix / iStock

Zwei Krankheiten, eine Ursache: Veränderungen am sogenannten TRPC5-Gen können Fettleibigkeit und bei Müttern nach der Geburt Depressionen auslösen, wie Mediziner herausgefunden haben. Beide Erkrankungen gehen demnach auf neurologische Störungen im Gehirn zurück, die durch diesen Gendefekt verursacht werden. Eine Gentherapie oder medikamentöse Behandlungen könnten in beiden Fällen künftig Abhilfe schaffen.

Sowohl Fettleibigkeit als auch postpartale Depressionen sind ein weltweit zunehmendes Gesundheitsproblem. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation hat sich die Zahl der fettleibigen Erwachsenen seit 1990 bereits verdoppelt, bei Jugendlichen sogar vervierfacht. Das hat unter anderem schwere Folgen für den Stoffwechsel und das Herz-Kreislauf-System der Betroffenen.

Unter Depressionen nach der Geburt eines Kindes leiden indes zehn bis 15 Prozent der Mütter. Während heute weniger Frauen infolge von Infektionen oder Blutverlust bei der Geburt sterben, stellen postpartale Depressionen weiterhin ein großes Sterberisiko für Mütter in den Monaten nach der Geburt dar.

Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit und Depressionen

Fettleibigkeit und postpartale Depressionen könnten dabei auf dieselbe biologische Ursache und möglicherweise auf einen Gendefekt zurückgehen, wie eine neue Studie nun nahelegt. Ein Team um Yongxiang Li vom Baylor College of Medicine identifizierte darin zwei nicht verwandte Jungen mit ähnlichem Verhalten. Beide litten unter intensiver Esssucht, schwerer Fettleibigkeit und veränderten sozialen Verhaltensweisen. Genanalysen ergaben, dass in den X-Chromosomen der Jungen jeweils ein kleines Stück fehlte. Dieser Erbgutabschnitt enthielt das sogenannte TRPC5-Gen.

Und auch die Mütter dieser beiden Jungen wiesen auffällige Zusammenhänge auf: „Ihre Mütter litten an Fettleibigkeit, Angstzuständen und postpartalen Depressionen. Wir fanden heraus, dass sie Träger waren – auf einem ihrer beiden X-Chromosomen fehlte das TRPC5-Gen“, sagt Seniorautor Sadaf Farooqi von der University of Cambridge. Die beiden Kinder und ihre Geschwister hatten jeweils das X-Chromosom mit dem Gendefekt geerbt.

Anzeige

Welche Rolle spielt das Gen TRPC5?

TRPC5 spielt eine wichtige Rolle im Gehirn: „Frühere Studien hatten gezeigt, dass die Störung des Gens TRPC5 im Gehirn bei Mäusen zu einer erhöhten Nahrungsaufnahme und einem geringeren Energieverbrauch führt und so Fettleibigkeit verursacht“, sagt Koautor Yong Xu vom Baylor College of Medicine in Houston.

Das Team um Li hat daraufhin die Rolle von TRPC5 in Nervenzellen im Gehirn bei Fettleibigkeit und postpartaler Depression genauer untersucht. Dafür fügten sie in das Erbgut von Mäusen ein defektes TRPC5-Gen ein und analysierten, welche Folgen dies für die Tiere hat.

TRPC5-Gen reguliert Verhaltensweisen in Mäusen und Menschen

Dabei zeigte sich, dass männliche Mäuse mit diesem Gendefekt genau wie die beiden Jungs stark zunahmen. Zudem waren sie ebenfalls ängstlicher, aufgeregter und weniger sozial als Tiere ohne das defekte TRPC5-Gen, wie das Team berichtet. Weibliche Mäuse mit diesem Gendefekt wiesen dieselben Symptome auf wie männliche. Zusätzlich entwickelten sie nach der Geburt Symptome einer Depression und kümmerten sich weniger um ihren Nachwuchs. Weibliche Mäuse, die keinen Nachwuchs bekamen, entwickelten hingegen trotz Gendefekt keine Depressionssymptome.

„Diese Versuche zeigen, dass die Merkmale und Verhaltensweisen, die bei Menschen mit einem defekten TRPC5-Gen beobachtet wurden, auch in unserem Mausmodell vorhanden waren“, sagt Xu. „Die Tests belegen damit, dass TRPC5 bei Säugetieren verschiedene angeborene Verhaltensweisen reguliert.“

Zwei Nervenzellen identifiziert

Um herauszufinden, über welchen Mechanismus dieses Gen unser Verhalten steuert, führten die Mediziner Folgeversuche an verschiedenen Zellkulturen und Mäusen durch, wobei sie jeweils das TRPC5-Gen entfernten oder Mutationen einfügten.

Die Experimente ergaben, dass zwei bestimmte Arten von Nervenzellen aus unserem Gehirn durch TRPC5 reguliert werden können. Beide Neuronen kommen im Hypothalamus vor, wie das Team feststellte. Diese Gehirnregion ist unter anderem für Instinkte wie Ernährung, Angst, Sozialisation und mütterliche Fürsorge zuständig.

Die sogenannten Pomc-Neuronen liegen im Nucleus arcuatus des Hypothalamus und helfen dort normalerweise, über die Hormone Insulin und Serotonin die Nahrungsaufnahme und das Körpergewicht zu regulieren. Wenn in den Pomc-Nervenzellen allerdings das TRCP5-Gen beschädigt war, wiesen die Mäuse einen stärkeren Appetit auf und fraßen übermäßig viel, wie Li und seine Kollegen erklären.

Gendefekt beeinflusst angeborenes Verhalten

Der zweite Typ an TRPC5-sensitiven Nervenzellen liegt im Nucleus paraventricularis des Hypothalamus (PVH) und produziert das Bindungshormon Oxytocin. Diese sogenannten Oxytocin-Neuronen helfen normalerweise, den Energiehaushalt des Körpers zu regulieren, Stress und Emotionen zu verarbeiten sowie bei der Mutter-Kind-Bindung, wie die Mediziner berichten.

„Das Entfernen des TRPC5-Gens aus PVH-Oxytocin-Neuronen bei Mäusen führte zu starkem Überessen und Fettleibigkeit bei beiden Geschlechtern sowie zu postpartalem depressivem Verhalten und verminderter mütterlicher Fürsorge bei Weibchen“, berichtet Xu.

In weiteren Experimenten untersuchten Li und seine Kollegen im Umkehrschluss, was in den Oxytocin-Neuronen passiert, wenn das defekte TRPC5-Gen wieder repariert wird und aktiv ist. Das Ergebnis: Das Verhalten der Mäuse normalisierte sich wieder. Sie nahmen ab und verhielten sich weniger ängstlich. „Zusammengenommen zeigen die Ergebnisse, dass diese angeborenen mütterlichen Verhaltensweisen durch TRPC5 auf Oxytocin-Neuronen vermittelt werden“, so Xu.

Neuer Ansatz für Diagnose und Therapie

Die Erkenntnisse könnten nun genutzt werden, um neue Therapien oder Diagnoseverfahren für Fettleibigkeit und postpartale Depressionen zu entwickeln. Zum Beispiel könnten Genanalysen bei der Diagnose helfen: „Unsere Arbeit unterstützt das Screening auf TRPC5, um eine klinische Diagnose für diese Erkrankungen zu stellen“, sagt Farooqi.

Zudem könnten Medikamente, die am Mechanismus des TRPC5-Gens beziehungsweise des von ihm kodierten Proteins – dem Ionenkanal Trpc5 (Transient Receptor Potential Channel 5) – ansetzen, die Beschwerden der Betroffenen lindern. Beispielsweise könnten die Pomc-Neuronen im Gehirn der Patienten gezielt durch Wirkstoffe aktiviert werden, um die bei Gendefekten verminderte Aktivierung über Trpc5 auszugleichen. Solche Medikamente sind bereits für die Behandlung von genetisch bedingter Fettleibigkeit zugelassen, wie die Mediziner berichten.

Zur Behandlung von postpartalen Depressionen könnten zudem künftig Wirkstoffe eingesetzt werden, die an Oxytocin-Rezeptoren auf den Nervenzellen binden. Das kann das Hormon Oxytocin selbst sein oder eine ähnliche Substanz. Auch Gentherapien, bei denen der Defekt im TRPC5-Gen repariert wird, sind denkbar.

Häufigkeit unklar

Wie viele Menschen weltweit einen Gendefekt im TRPC5-Gen besitzen, ist bislang unklar. Eine erste Analyse des Erbguts von rund 450.000 Menschen aus Großbritannien kam zu dem Ergebnis, dass 369 Personen eine Mutation in diesem Gen aufwiesen. Sie waren alle übergewichtig, wie Li und seine Kollegen berichten.

„Diese Forschung erinnert uns daran, dass viele Verhaltensweisen, von denen wir annehmen, dass sie vollständig unter unserer Kontrolle stehen, eine starke Grundlage in der Biologie haben – sei es unser Essverhalten, Angstzustände oder postnatale Depressionen. Wir müssen mehr Verständnis und Mitgefühl für Menschen haben, die unter diesen Erkrankungen leiden“, sagt Farooqi. (Cell, 2024; doi: 10.1016/j.cell.2024.06.001)

Quelle: Baylor College of Medicine, University of Cambridge

Teilen:
Anzeige

In den Schlagzeilen

News des Tages

Symbolbild Migräne

Auslöser für Migräne-Anfälle identifiziert

Kann ChatGPT Deepfakes entlarven?

Wären die Ammoniten auch ohne „Dinokiller“ ausgestorben?

Diaschauen zum Thema

Dossiers zum Thema

Herz und Stethoskop

Volkskrankheiten - Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf dem Vormarsch

Bücher zum Thema

Volkskrankheiten - Gesundheitliche Herausforderungen in der Wohlstandsgesellschaft

Top-Clicks der Woche