Mathematik

Über die Unendlichkeit hinaus

Reelle Zahlen und die Kontinuumshypothese

Gibt es in der Mathematik nur eine Unendlichkeit? Auf den ersten Blick scheint dies so, denn der deutsche Mathematiker Georg Cantor hat im Jahr 1873 bewiesen, dass beispielsweise die unendliche Menge aller natürlichen Zahlen, aller ganzen Zahlen und aller rationalen Zahlen – also aller ganzzahliger Brüche – gleichmächtig sind. Ein „mehr als dieses unendlich“ schien es demnach nicht zu geben – oder doch?

Der goldene Schnitt
Der Goldene Schnitt zerlegt eine Strecke so, dass sich die längere Teilstrecke zur kürzeren Teilstrecke verhält wie die Gesamtstrecke zur längeren Teilstrecke. Der Quotient dieser Teilung ist eine irrationale reelle Zahl. © Jahobr/ gemeinfrei

„Ausreißer“ im Zahlenstrang

Tatsächlich gibt es noch eine Zahlenmenge, für die die Antwort nicht ganz so eindeutig ist – die reellen Zahlen (ℝ). Zu diesen gehören beispielsweise die Kreiszahl π, die Eulersche Zahl e, aber auch die Wurzel aus 2 (√2) und weitere Quadratwurzeln sowie das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnitts. Kennzeichnend für diese irrationalen Zahlen ist, dass sie sich nicht durch Brüche mit ganzzahligem Zähler und Nenner darstellen lassen. Für die Quadratwurzel aus zwei erkannte dies schon vor fast 2.000 Jahren der griechische Gelehrte Euklid.

Doch wie sieht es mit der Unendlichkeit dieser reellen Zahlen aus? Ist sie ähnlich wie bei den rationalen Zahlen abzählbar, also gleichmächtig wie die Unendlichkeit natürlicher Zahlen? Dieser Frage widmete sich Georg Cantor im Jahr 1874. „Cantor schaffte es zu beweisen, dass es unmöglich ist, eine bijektive Zuordnung zwischen der Menge der reellen Zahlen und der Menge der natürlichen Zahlen zu erzeugen“, erklärt die Mathematikerin Mary Coupland von der University of Technology in Sydney. „Egal, wie oft man es versucht, es bleiben immer reelle, nicht zugeordnete Zahlen übrig.“

Natürliche und reelle Zahlen
Ist die Unendlichkeit der reellen Zahlen genauso groß wie die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen? © scinexx; HG: titoOnz/ iStock

Zwei verschiedene Unendlichkeiten

Demonstrieren lässt sich dies mit Cantors zweiten Diagonalargument. Dafür ordnen wir beispielsweise jede reelle Zahl zwischen Null und Eins einer natürlichen Zahl zu – wir versuchen, eine Bijektion herzustellen. Auf den ersten Blick scheint dies auch zu klappen. Doch nun kommt der Trick: Wir verändern nun die Dezimalstellen der übereinander stehenden reellen Zahlen so, dass wir in der ersten Zahl die erste Dezimalstelle um eins hochsetzen, in der zweiten die zweite Dezimalstelle und so weiter.

Lesen wir nun die resultierende Zahl diagonal ab, ergibt sich eine reelle Zahl, die in der paarweisen Auflistung der Bijektion noch nicht vorkam. Denn sie unterscheidet sich immer in mindestens einer Ziffer von allen bisher gelisteten. Diese Diagonalzahl hat folglich keinen Partner in der Menge der natürlichen Zahlen. „Selbst die millionste Zahl auf unserer Liste ist mindestens in der millionsten Stelle hinter dem Komma anders als alle bisher gelisteten“, erklärt Coupland. Dies funktioniere deswegen, weil die in den reellen Zahlen enthaltenen irrationalen Zahlen keine sich wiederholenden Muster in ihren Dezimalstellen aufweisen – egal, wie viele Stellen man sich anschaut.

Cantor schloss aus diesem Ergebnis, dass die Menge der natürlichen (ℕ ) und der reellen Zahlen (ℝ) unterschiedlich groß sein müssen. Beide Zahlenmengen sind demnach zwar unendlich, aber ihre Unendlichkeiten sind nicht gleichmächtig, wie Cantor bewies. Die reellen Zahlen sind demnach überabzählbar und Cantor ordnete ihnen die Kardinalzahl ℵ1 (Aleph 1) zu. Damit gibt es in der Mathematik schon mindestens zwei unterschiedlich mächtige Unendlichkeiten.

Das Problem der Kontinuumshypothese

Die bis heute diskutierte Frage aber ist: Gibt es zwischen diesen beiden Unendlichkeiten noch Zwischenstufen? Cantor glaubte dies nicht und formulierte 1878 die Kontinuumshypothese: Wenn eine Menge größer ist als die der natürlichen Zahlen, dann muss sie zumindest gleich groß sein wie die Menge der reellen Zahlen. Jede Teilmenge der reellen Zahlen entspricht demnach entweder der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen oder aber der des Kontinuums aller reellen Zahlen.

„Wenn man annimmt, dass die Kontinuumshypothese stimmt, dann ist die Sache ganz einfach: Dann ist zwischen der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen und der Unendlichkeit der reellen Zahlen keine weitere Sorte von Unendlichkeit möglich“, erklärt Jakob Kellner von der TU Wien. Das Problem jedoch: Cantors Hypothese zu beweisen, ist alles andere als einfach, wie sich gezeigt hat. David Hilbert nahm die Hypothese deshalb als 1. Problem in seine berühmte Liste der 23 mathematischen Jahrhundertprobleme auf.

Im Jahr 1937 kam der Mathematiker Kurt Gödel zu dem Schluss, dass sich die Kontinuumshypothese nicht eindeutig widerlegen lässt, im Jahr 1963 ermittelte dann der US-Mathematiker Paul Cohen, dass sie sich auch nicht eindeutig beweisen lässt – jedenfalls nicht auf Basis der bestehenden Regeln und Axiome der Mengenlehre.

Cichóns Diagramm

Und nun? Immerhin betrifft Cantors Hypothese ziemlich fundamentale Annahmen der Mengenlehre, darunter auch die Frage, wie viele reelle Zahlen es denn nun gibt. Es wäre daher schon wichtig, die Frage nach den „Zwischen-Unendlichkeiten“ eindeutig zu beantworten. Ob und wie dies möglich ist, bleibt allerdings strittig. Einige Mathematiker arbeiten daran, neue Axiome der Mengenlehre aufzustellen, andere versuchen, das Diagonalargument von Cantor so umzuinterpretieren, dass sich daraus eine Lösung ergibt.

Cichon-Diagramm
Im Cichoń-Diagramm lassen sich zehn definierte Unendlichkeiten von Teilmengen der reellen Zahlen der Größe nach anordnen. © ETH Zürich / Annalen der Mathematik

Um Ordnung in das Dickicht der Mengen und Unendlichkeiten zu bringen, wurde das sogenannte Cichón-Diagramm entwickelt. In ihm sind zehn für Teilmengen der reellen Zahlen geltende Unendlichkeiten und ihre Beziehung zueinander aufgelistet. Unklar blieb aber, alle zehn Unendlichkeiten in diesem Diagramm voneinander verschieden sind und auch, in welcher Hierarchie sie zueinander stehen.

Zehn verschiedene Unendlichkeiten

Im Jahr 2019 gelang dann dem Mathematikertrio Jakob Kellner und Martin Goldstern von der TU Wien und Saharon Shelah von der Hebräischen Universität Jerusalem ein erster Schritt zu einer Antwort. „Wenn man aus den möglichen Unendlichkeits-Definitionen bestimmte Paare herausgreift und beweist, dass eine größer oder gleich der anderen sein muss, entsteht eine Hierarchie der Unendlichkeiten“, erklärt Goldstern. Er und seine Kollegen haben dies für alle zehn Unendlichkeiten des Cichón-Diagramms untersucht.

Das Ergebnis: In Cichóns Diagramm können tatsächlich alle Unendlichkeiten unterschiedliche Mächtigkeit haben – es gibt keine Paare, die den gleichen Unendlichkeitswert haben müssen. Damit haben die Mathematiker einen wichtigen Fortschritt in diesem zentralen Baustein der Logik und Mengenlehre erzielt. Ob die verwendete Methode aber ausreicht, um Cantors Kontinuumshypothese eindeutig zu widerlegen, ist noch offen. Die Frage nach den unendlichen Weiten der Unendlichkeiten bleibt daher weiterhin spannend.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Wie unendlich ist die Unendlichkeit?
Dem Phänomen des Grenzenlosen auf der Spur

Vom Kleinsten bis ins Größte
Wo begegnet uns Unendlichkeit?

Wie viel ist unendlich plus 1?
Rechnen mit Unendlichkeiten

Die Kunst der Zuordnung
Wie vergleicht man unendliche Zahlenmengen?

Über die Unendlichkeit hinaus
Reelle Zahlen und die Kontinuumshypothese

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