Neurologie

Warum Propofol uns in Narkose versetzt

Anästhetikum bringt Gehirn aus dem Gleichgewicht

Arzt verabreicht einem Patienten eine Spritze mit Propofol
Propofol ist ein gängiges Narkosemittel, das intravenös verabreicht wird. © Anton Cherstvenkov / iStock

Einschläfernde Wirkung: Obwohl Narkosemittel wie Propofol seit langem bei Operationen verwendet werden, haben Neurologen erst jetzt herausgefunden, wie unser Gehirn durch sie das Bewusstsein verliert. Demnach bringt das Anästhetikum unser Gehirn aus dem natürlichen Gleichgewicht und destabilisiert die Hirnaktivität. Paradoxerweise wird unser Denkorgan dadurch sogar übererregbar. Die Erkenntnisse könnten künftig helfen, Narkose-Patienten noch besser zu überwachen und die Anästhetika feiner zu dosieren.

Propofol ist eines der gängigsten Narkosemittel, mit dem Anästhesisten Patienten während einer Operation betäuben. Der Wirkstoff bindet an GABA-Rezeptoren auf Nervenzellen im Gehirn und blockiert dabei diese Neuronen. Andere Narkose-Wirkstoffe wirken durch ähnliche Blockaden. Doch wie genau es dadurch zum Bewusstseinsverlust kommt, ist bislang nicht vollständig verstanden.

Eine Frage der Balance

Einer Theorie zufolge bringen Propofol und Co die „dynamische Stabilität“ unseres Gehirns durcheinander. In diesem Gleichgewichtszustand sind die Hirnzellen zwar noch sensibel genug, um auf neue Reize zu reagieren, werden aber vom Gehirn daran gehindert, übermäßig starke Signale zu generieren. Das Gehirn balanciert so zwischen Erregbarkeit und Chaos. „Es muss erregbar genug sein, damit sich seine Neuronen gegenseitig beeinflussen können, aber wenn es zu erregbar wird, dreht es sich ins Chaos“, sagt Earl Miller vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Früheren Studien zufolge können Anästhetika dieses feine Gleichgewicht stören, die Informationsverarbeitung im Cortex beeinträchtigen und so zur Narkose führen. Die Ergebnisse sind jedoch widersprüchlich: Einige legen nahe, dass das Gehirn durch Narkosemittel zu stabil und unempfindlich wird, andere, dass es zu sensibel wird. Was tatsächlich passiert, war nur schwer zu messen.

Makaken im Narkosetest

Ein Team um Miller und Erstautor Adam Eisen vom MIT hat nun eine neue Methode angewendet, um den Zustand der „dynamischen Stabilität“ genauer zu vermessen. Dafür verabreichten die Neurowissenschaftler zwei Makaken eine Stunde lang Propofol, so dass diese langsam und schrittweise das Bewusstsein verloren. Währenddessen spielten sie den Affen verschiedene Töne vor und verabreichten ihnen Luftstöße.

Vor, während und nach der Narkose nahmen Eisen und seine Kollegen zudem die elektrischen Ströme in vier verschiedenen Bereichen der Großhirnrinde der Tiere auf. Diese sind am Sehen, Hören, der räumlichen Wahrnehmung und an Bewegungen beteiligt. Anschließend ergänzten sie ihre Messwerte mit Daten aus früheren Aufzeichnungen, um daraus auf die gesamte Hirnaktivität zu schließen.

So konnten die Forschenden bestimmen und vergleichen, wie stark Sinnesreize wie Geräusche oder spontane Störungen die Hirnströme durcheinanderbringen – unter normalen Bedingungen und unter dem Einfluss von Propofol.

Propofol macht Gehirn instabiler

Die Auswertung ergab, dass das Gehirn der Makaken unter der Wirkung von Propofol nach einem Sinnesreiz länger erregt blieb und die Hirnaktivität fast zweimal langsamer zur Basislinie zurückkehrte. Dieser Effekt nahm mit der Dauer des Propofol-Einflusses zu, bis die Tiere schließlich das Bewusstsein verloren.

Die Neurowissenschaftler schließen daraus, dass Propofol über die Hemmung der GABA-Neuronen tatsächlich den Grundzustand des Gehirns verändert und es instabiler macht. Das Gleichgewicht der „dynamischen Stabilität“ wird demnach zur Seite der Dynamik und Empfindsamkeit verschoben, was wiederum den Bewusstseinsverlust zur Folge hat. „Propofol scheint die Mechanismen zu stören, die das Gehirn in diesem engen Betriebsbereich halten“, sagt Miller.

Gehemmte Hemmung

Um den beobachteten Effekt zu überprüfen, entwickelten Eisen und seine Kollegen anschließend ein Computermodell, das ein simples neuronales Netzwerk beschreibt. Darin blockierten sie gezielt bestimmte Knotenpunkte, so wie es Propofol auf neuronaler Ebene im Gehirn tut. Tatsächlich wurde daraufhin auch das künstliche neuronale Netzwerk ähnlich instabil wie die bei den Affen gemessenen Hirnströme.

Paradoxerweise führt demnach die neuronale Hemmung durch das Narkosemittel nicht zu einer reduzierten Sensibilität, sondern zu einer Überempfindlichkeit. Die Forschenden vermuten daher, dass die durch Propofol gehemmten Hirrzellen wiederum andere Neuronen mit natürlicher Hemmfunktion hemmen, so dass insgesamt die Gehirnaktivität und -sensibilität erhöht wird.

Chance für gezieltere Narkosen

Die Neurowissenschaftler gehen zudem davon aus, dass andere Anästhetika nach demselben Prinzip und über ähnliche Mechanismen zur Narkose führen wie Propofol. Ob dies zutrifft, wollen sie nun in Folgestudien überprüfen. „Wenn wir bei verschiedenen Anästhetika gemeinsame Mechanismen feststellen, können wir sie alle sicherer machen, indem wir an ein paar Knöpfen drehen, anstatt Sicherheitsprotokolle für alle verschiedenen Anästhetika nacheinander entwickeln zu müssen“, sagt Miller.

Künftig könnten die Erkenntnisse dabei helfen, genauer zu überwachen, wie tief die verabreichte Narkose bei Patienten ist. Indem sie in Echtzeit die Hirnströme messen, könnten Mediziner dann auch passgenaue Dosierungen der Anästhetika verabreichen, um die notwendige Narkosetiefe und -länge zu erreichen. „Wir fanden heraus, dass die Stabilität der Gehirndynamik ein hervorragender Marker für die Tiefe der Narkose ist, da sie gleichmäßig und monoton mit der Tiefe des Narkosezustands variiert“, schreiben die Wissenschaftler.

Mit der Messmethode könnten künftig zudem auch andere Gehirnzustände genauer erforscht werden, einschließlich neuropsychiatrischer Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Süchte und Schizophrenie, so das Team. Auch dabei könnte die Technik helfen, Wirkstoffe feiner zu dosieren. (Neuron, 2024; doi: 10.1016/j.neuron.2024.06.011)

Quelle: Massachusetts Institute of Technology (MIT)

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