Frühkindliche Reflexe, auch primitive Reflexe genannt, treten nur in den ersten Lebensmonaten auf. Mediziner erkennen daran den Entwicklungsstand eines Säuglings oder Kleinkindes. Diese Reflexe verlieren sich meist im ersten Lebensjahr, sobald sie keinen unmittelbaren Nutzen mehr haben oder der weiteren Entwicklung des Kindes im Wege stehen würden.
Reflexe führen Säuglinge zur Muttermilch
Einige der primitiven Reflexe sind mit der Nahrung verbunden. Mit dem sogenannten Suchreflex suchen Säuglinge beispielsweise die mütterlichen Brustwarzen. Die Berührung eines Mundwinkels oder einer Wange führt dabei dazu, dass das Kind den Kopf in diese Richtung dreht und den Mund öffnet.
Anschließend greift der frühkindliche Saugreflex: Bei Berührung der Lippen spitzen Neugeborene diese und beginnen kräftig zu saugen. Das sorgt dafür, dass Babys Nahrung von der Brust der Mutter aufnehmen können. Der Suchreflex verschwindet nach drei bis vier Monaten, der Saugreflex geht in Nuckelbewegungen über.
Im Griff der Evolution
Andere frühkindliche Reflexe sind rudimentäre Verhaltensweisen, also inzwischen unnötige Überbleibsel unserer Abstammung von den Primaten. Genau wie bei Schimpansenkindern schließen sich bei Säuglingen beispielsweise die Hände und beugen sich die Zehen, wenn Druck auf die Handinnenflächen oder Fußsohlen ausgeübt wird. Evolutionär diente dies dazu, dass sich die Neugeborenen reflexartig am Fell der Mütter festhalten. Der Griff ist deswegen so stark, dass die klammernden Kinder ihr eigenes Gewicht tragen können.
„Legt man einem vier Wochen alten Baby einen Finger in die Hand, umklammert es diesen automatisch wie einen Schraubstock. Wieder loslassen kann es ihn jedoch nicht“, sagt der Neuropsychologe Hans Mayer gegenüber der „Apotheken Umschau“. Damit das Kind mit der Zeit lernt, seine Finger willentlich zu bewegen, verliert sich dieser Greifreflex nach etwa vier Monaten – beziehungsweise elf Monaten bei den Füßen.
Für ein Festhalten an der Mutter sorgt auch der Moro-Klammerreflex: Wenn der Kopf des Säuglings plötzlich zurückfällt, erschrickt er und breitet zunächst blitzartig seine Arme weit aus. Anschließend schließt er die Arme langsam eng über der Brust und ballt die Fäuste. Auch dieser Reflex verliert sich zwischen dem dritten und vierten Lebensmonat.
Babyschwimmen
Auch das in vielen Gemeinden angebotene Babyschwimmen ist nur dank frühkindlicher Reflexe möglich. Zum einen schwimmen Säuglinge in den ersten Lebensmonaten reflexartig, wenn man sie waagerecht ins Wasser hält. Zum anderen verschließen sich automatisch die Atemwege des Kindes, wenn es Wasser in Mund und Nase bekommt. Dadurch kann beim Tauchgang kein Wasser in die Lunge gelangen.
„Dieser Reflex funktioniert auch, wenn man das Gesicht des Babys mit einem Föhn anbläst oder ihm in die Nase pustet“, sagt Claus-Martin Muth vom Universitätsklinikum Ulm. Nach fünf bis acht Monaten verschwindet dieser Atemschutzreflex wieder. Erhalten bleibt indes unser primitiver Tauchreflex, durch den sich der Herzschlag unter Wasser verlangsamt, um Sauerstoff zu sparen. „Ausgelöst wird dies durch Rezeptoren, die rechts und links der Nase und in der Stirn sitzen“, erklärt Muth. Diese reagieren auf kaltes Wasser.
Frühkindliche Entwicklung
Andere frühkindliche Reflexe fördern quasi nebenbei die Entwicklung der Neugeborenen. Beispielsweise rudern Kleinkinder häufig wild mit den Armen, wahrscheinlich ursprünglich aus einem Bewegungsreflex heraus. Das hilft ihnen nachfolgend aber auch bei der Hand-Augen-Koordination, wie Forschende vermuten.
Der Schreitreflex hilft den Säuglingen wiederum beim späteren Laufen lernen, auch wenn er bereits nach drei Monaten vergeht, wie eine Studie belegt (doi: 10.1016/j.neuropsychologia.2017.11.005). Dieser Reflex äußert sich, wenn wir ein Neugeborenes hochheben, sodass seine Fußsohlen eine Unterlage berühren. Das Kind reagiert darauf mit unwillkürlichen Gehbewegungen in Form winziger Trippelschritte. Auch der Babinski-Reflex hilft im ersten Lebensjahr beim Laufen lernen und ist bei Neugeborenen daher ganz normal. Tritt der Reflex hingegen im Erwachsenenalter auf, ist das ungewöhnlich und weist auf eine Nervenschädigung hin.