Auf der Überholspur: Astronomen haben erstmals gemessen, wie schnell sich die Dunkle Materie im Kosmos bewegt – und Überraschendes festgestellt. Die Messdaten aus zwei miteinander kollidierenden Galaxienhaufen enthüllten, dass der unsichtbare „dunkle“ Anteil das heiße intergalaktische Gas deutlich überholte. Dabei rasten die Haufen samt ihrer Dunklen Materie mit der relativen Geschwindigkeit von rund 3.000 Kilometer pro Sekunde aufeinander zu – rund einem Prozent der Lichtgeschwindigkeit.
Die Dunkle Materie erfüllt nahezu den gesamten Kosmos, dennoch wissen wir so gut wie nichts über sie. Unklar ist nicht nur, woraus sie besteht, auch wie diese unsichtbare Materieform verteilt ist und ob sie mit sich selbst interagieren kann, ist offen. Denn beobachten lässt sich die Dunkle Materie nur indirekt, beispielweise über die Bewegungen von Sternen oder Galaxien. Als besonders geeignete Objekte dafür gelten große Galaxiencluster, die zu rund 80 bis 90 Prozent aus Dunkler Materie bestehen.
„Verschmelzungen zwischen solchen massereichen Galaxienhaufen sind ein besonders sensibler Testfall für die kosmologischen Modelle“, erklären Emily Silich vom California Institute of Technology und ihre Kollegen. Denn aus den Positionen der Kollisionspartner lässt sich ablesen, wo und wie die sichtbaren und unsichtbaren Massen dieser Haufen interagieren.
Tempomessung bei einer kosmischen Karambolage
Jetzt ist es den Astronomen erstmals gelungen, die Geschwindigkeit der Dunklen Materie bei einer solchen Galaxienhaufen-Kollision zu messen – und sie mit dem Tempo der sichtbaren Materie in Form heißer leuchtender Gase zu vergleichen. Testobjekt waren die kollidierenden Galaxienhaufen MACS J0018.5+1626 – zwei Cluster aus jeweils tausenden Galaxien in einigen Milliarden Lichtjahren Entfernung. Das Entscheidende dabei: Diese Galaxienhaufen bewegen sich nicht quer zu unserer Position, wie bei den meisten anderen bisher beobachteten Verschmelzungen, sondern in Richtung unserer Sichtachse.
„Beim Bullet Cluster und anderen sitzen wir gewissermaßen auf der Tribüne eines Autorennens und können daher schöne Schnappschüsse der Rennautos schießen, während sie einander auf der Zielgeraden überholen“, erklärt Silichs Kollege Jack Sayers. „In unserem Falle stehen wir dagegen mit direkt am Rand der Piste und sehen die Rennwagen auf uns zurasen. Wir können daher wie mit einer Radarpistole ihre Geschwindigkeit messen.“
Als „Radarpistole“ dienten den Astronomen spektrale Beobachtungsdaten von Teleskopen im Röntgen-, optischen und Radiobereich. Objekte, die sich von uns wegbewegen, erzeugen darin spektrale Verschiebungen in den roten Wellenbereich, bei sich annähernden Objekte tritt eine Blauverschiebung auf. Zusätzlich nutzte das Team den sogenannten Sunyaev-Zel’dovich-Effekt. Dieser tritt auf, wenn die Photonen des kosmischen Hintergrundstrahlung am heißen, ionisierten Gas der Galaxienhaufen gestreut werden. Aus dieser Streuung lässt sich das Tempo des Gases ablesen.
Dunkle Materie auf der Überholspur
Die Analysen enthüllten: Bei der Kollision der beiden großen Galaxienhaufen bewegen sich die sichtbaren heißen intergalaktischen Gase und die Dunkle Materie nicht gleich schnell – es kommt zu einer Entkopplung zwischen beiden. Dabei rasen beide Cluster zwar zunächst mit rund 3.000 Kilometer pro Sekunde aufeinander zu. Dann jedoch trennen sich ihre Komponenten auf: Die Dunkle Materie eilt den heißen Gasmassen deutlich voraus.
Bei solchen Kollisionen bewegt sich die Dunkle Materie demnach schneller als das heiße Gas im Cluster und überholt es zunächst. Silich vergleicht dieses Szenario mit dem Zusammenstoß von zwei offenen Lastwagen mit Sand: Wenn sie kollidieren, stoppen die ineinander verkeilten Laster. Der lose Sand fliegt dagegen zunächst weiter zwischen ihnen hindurch. „Die Dunkle Materie ist dabei der Sand und fliegt voraus“, so Silich. Ergänzende Modellsimulationen ergaben, das das Gas dabei mehrere 100 Millionen Jahre benötigt, um wieder aufzuholen.
Elektromagnetische Bremswirkung
Aber warum kommt es zu diesem „Überholmanöver“ der Dunklen Materie? Der Grund liegt in der geringen Wechselwirkung der Dunklen Materie mit ihrer Umgebung, wie das Team erklärt: Dunkle Materie wird nur durch Schwerkraft-Effekte beeinflusst, während die heißen, ionisierten Gasmassen und auch die normale Materie zusätzlich elektromagnetischen Kräften ausgesetzt sind. Diese erzeugen bei der Cluster-Kollision zusätzliche Turbulenzen und Interaktionen, die die Gasmassen abbremsen.
„Es hat uns eine lange Zeit gekostet, alle Puzzleteile zusammenzufügen“, sagt Silich. „Aber jetzt wissen wir endlich, was dort vor sich geht. Wir hoffen nun, dass dies einen neuen Weg ebnet, Dunkle Materie in Galaxienhaufen zu untersuchen.“ (The Astrophysical Journal, 2024; doi: 10.3847/1538-4357/ad3fb5)
Quelle: California Institute of Technology