Ist es fünf vor Zwölf für den Nordatlantikstrom und seinen Strömungsmotor? Oder ist alles halb so schlimm und das gefürchtete Umkippen der atlantischen Umwälzströmung (AMOC) liegt noch in ferner Zukunft – wenn es überhaupt eintritt? Genau diese Frage sorgt aktuell erneut für heftige Diskussionen unter Meeres- und Klimaforschern.
Umkippen noch in diesem Jahrhundert?
Anstoß dazu gab eine Studie, die René van Westen von der Universität Utrecht und seine Kollegen Anfang 2024 veröffentlichten. In dieser hatten sie die Reaktion der Umwälzströmung auf den zunehmenden Einstrom von Schmelzwasser mithilfe eines komplexen Ozean-Atmosphären-Modells untersucht. Ziel war es herauszufinden, ob und ab welcher Schmelzwassermenge die AMOC in einen neuen, schwächeren Zustand wechselt. Um den Einfluss anderer Faktoren auszuschließen, blieben Temperaturen und CO2-Werte dabei auf präindustriellen Werten.
Es zeigte sich: Schon der reine Schmelzwassereinstrom reichte aus, um die Umwälzströmung an ihren Kipppunkt zu bringen. Allerdings trat dieses Umkippen in ihrem Modell erst unter relativ extremen Bedingungen auf: „Wir benötigten einen im Vergleich zur heutigen Schmelzrate rund 80-mal stärkeren Süßwassereinstrom“, berichten van Westen und sein Team. Allerdings sank diese Schwelle deutlich, wenn sie bestimmte Verzerrungen in diesem sehr vereinfachten Modell herausrechneten. Dann könnte der Kipppunkt nach Angaben der Forscher sogar noch in diesem Jahrhundert erreicht werden – irgendwann zwischen 2025 und 2095.
Ähnlich nah am Kipppunkt sahen Peter und Susanne Ditlevsen von der Universität Kopenhagen die nordatlantische Umwälzströmung in einer Studie vom Juli 2023. Ihr Prognosemodell nutzte als Indikator primär die Meerestemperatur in einem speziellen Strömungswirbel im Nordatlantik. „Wir sagen mit hoher Wahrscheinlichkeit voraus, dass das Umkippen schon Mitte dieses Jahrhunderts stattfinden könnte“, schreiben die beiden Forschenden. Ob es allerdings zu einem kompletten Stopp der Umwälzströmung kommt oder nur einem Teilkollaps, sei nicht eindeutig zu ermitteln, so die Ditlevsens.
„Auf tönernen Füßen“
Allerdings: Diese Prognosen widersprechen den Vorhersagen der meisten anderen Modelle einschließlich denen des Weltklimarats IPCC im letzten Weltklimabericht. Nach diesem droht ein Kollaps der atlantischen Umwälzströmung frühestens nach 2100 und auch dann nur, wenn die globale Erwärmung ungebremst weiter anhält. „Es gibt nur sehr, sehr wenige Modelle, die einen Zusammenbruch der AMOC vor 2100 simulieren“, erklärt beispielsweise Levke Caesar vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften in Bremen. „Deshalb sind wir relativ sicher, dass die Wahrscheinlichkeit dafür gering ist.“
Auch andere Fachkollegen, darunter Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) sehen die Prognosen der beiden Studien kritisch. „Eine quantitative Aussage – etwa ‚wie nah?‘ oder ‚Wann ist der Kipppunkt erreicht?‘ – habe ich in meinem Paper bewusst nicht gemacht“, sagt Boers. „Die Unsicherheiten in den mechanistischen Annahmen und in den zu Grunde liegenden Daten sind für eine solche Extrapolation viel zu groß.“ Eine Aussage zum Zeitpunkt des Kippens könne man anhand der von van Westen und Team genutzten Datenbasis nicht treffen.
Noch schärfer formuliert es Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg: Zwar liefere die Studie von van Westen et al. den bisher besten Beleg dafür, dass die AMOC einen Kipppunkt hat. „Aber die so zuversichtlich vorgetragene Aussage, es werde im 21. Jahrhundert zum Kollaps der AMOC kommen, steht auf tönernen Füßen“, kommentiert er.
„Wir müssen handeln“
Die Debatte unterstreicht damit erneut, wie schwierig es ist, die komplexen Wechselwirkungen und Reaktionen des gekoppelten Ozean-Klimasystems zu verstehen und einzuschätzen. „Es besteht immer noch große Unsicherheit darüber, wo der Kipppunkt der AMOC liegt“, kommentiert Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), einer der einer der Vorreiter der AMOC-Forschung.
Einig sind sich alle Meeres- und Klimaforscher aber in einem Punkt: Jede weitere Klimaerwärmung und Abschwächung der atlantischen Umwälzströmung wird unsere Lebensbedingungen weiter verschlechtern – auch ohne komplettes Umkippen. „Wir sehen aktuell bereits eine ganze Reihe von Ereignissen, die auch Auswirkungen des anthropogenen, also des menschengemachten Klimawandels sind. Diese Auswirkungen geben Anlass genug zum Handeln“, sagt Johanna Baehr, Leiterin der Klimamodellierung an der Universität Hamburg. „Klar ist, dass die Treibhausgasemissionen drastisch reduziert werden müssen – je früher, desto besser.“