Marine Methusalems: Mit rund 400 Jahren ist der Grönlandhai unter den Wirbeltieren am langlebigsten – aber warum? Einige Antworten auf diese Frage liefert die erste Sequenzierung seiner DNA. Demnach besitzt der Grönlandhai nicht nur ein besonders großes Genom, sondern auch ein ganzes Arsenal an Genen für DNA-Reparaturen. Diese liegen im Erbgut des Grönlandhais auffallend häufig in zahlreichen Kopien vor. Könnte dies die rekordträchtige Lebensdauer dieser Haie erklären?
Grönlandhaie (Somniosus microcephalus) leben in den Tiefen des nördlichen Atlantiks und des Arktischen Ozeans und kommen nur sehr selten mit Menschen in Kontakt – als Beifang in den Netzen der Fischer. Weil bisher nur wenige Exemplare untersucht wurden, ist ihre genaue Lebensdauer unbekannt. Radiokarbondatierungen zufolge haben die über fünf Meter langen Fische jedoch eine Lebenserwartung von mindestens 400 Jahren. Damit sind sie das langlebigste bekannte Wirbeltier und werden sogar doppelt so alt wie Schildkröten und Grönlandwale.
Im Gegensatz zum Menschen weisen Grönlandhaie dabei selbst nach 200 Jahren noch keine altersbedingten Veränderungen im Gehirn auf. Bekannt ist bereits, dass diese Haie quasi in Zeitlupe leben, nur sehr langsam wachsen und sich eher schleichend fortbewegen. Doch welche genetischen Mechanismen verhelfen dem geheimnisvollen Tier zu seiner extremen Langlebigkeit?
Riesiges Genom des Grönlandhais entschlüsselt
Um das herauszufinden, hat ein Forschungsteam um Arne Sahm vom Leibniz-Institut für Alternsforschung in Jena und der Ruhr-Universität Bochum nun erstmals das riesige Genom des Grönlandhais sequenziert. Mit 6,45 Milliarden Basenpaaren ist der genetische Code des Grönlandhais demnach doppelt so lang wie der des Menschen. Er besteht zu 70 Prozent aus repetitiven und sich häufig selbst replizierenden Elementen, manchmal auch als springende Gene bezeichnet, wie die Sequenzierung ergab. Von einigen Genen fanden die Forschenden über 100 Kopien im Genom.
„Das ist erstaunlich, da ein hoher Anteil solcher transponierbaren Elemente zumeist als schädlich angesehen wird“, sagt Arne Sahm. Tatsächlich können springende Gene andere Gene zerstören und das Genom insgesamt destabilisieren. Im Fall des Grönlandhais scheint der hohe Anteil springender Gene die Lebensdauer der Art aber nicht begrenzt, sondern sogar erhöht zu haben. Wie ist das möglich?
Hinweise auf ungewöhnlich effektive DNA-Reparatur
Das Team fand zum einen eine spezifische Veränderung im Protein p53 des Grönlandhais. Dieses Schlüsselprotein reagiert auf DNA-Schäden und ist sowohl im Menschen als auch bei vielen anderen Arten als „Wächter des Genoms“ bekannt. Ist p53 defekt, führt dies oft zu Krebs. Im Falle des Grönlandhais könnte die Veränderung von p53 jedoch dessen Lebensdauer erhöht haben, weil das Protein seine DNA so effektiver repariert.
Zudem hatten auffällig viele der Gene, die in mehreren Kopien vorlagen, eine Funktion bei der Reparatur von DNA-Brüchen. „Die Analyse legt nahe, dass eine verbesserte DNA-Reparatur eine wichtige Rolle für seine extreme Langlebigkeit spielen könnte“, sagt Sahm. Demnach haben sich während der Evolution des Grönlandhais durch seine Maschinerie der transponierbaren Elemente möglicherweise auch solche Gene vervielfältigt, die an der Reparatur von DNA-Schäden beteiligt sind – wie beispielsweise p53 und anderen molekularen Schutzwerkzeugen.
„In jeder unserer Zellen wird die DNA täglich tausende Male beschädigt, und spezialisierte molekulare Mechanismen reparieren sie ständig“, erklärt Koautor Alessandro Cellerino vom Leibniz-Institut für Alternsforschung.
Allgemeiner Mechanismus auch für andere Tiere?
Die Ergebnisse decken sich mit früheren, vergleichenden Genomstudien, wonach langlebige Haie, Schildkröten und Säugetierarten ihre DNA ebenfalls sehr effizient reparieren können. Elefanten besitzen beispielsweise mehrere Kopien des p53-Gens. Das legt nahe, dass die DNA-Reparatur ein allgemeiner Mechanismus sein könnte, der der Evolution außergewöhnlicher Langlebigkeit zugrunde liegt.
Die Forschenden vermuten, dass die molekularen Mechanismen des Alterns beim Grönlandhai auch für viele andere Organismen gelten könnten. „Die Erforschung der genetischen Grundlagen des großen Spektrums von Lebensspannen im Tierreich ermöglicht es uns auch, die allgemeinen Mechanismen der Langlebigkeit besser zu verstehen“, erklärt Cellerino.
Grundlage für Folgestudien
In Folgestudien wollen Sahm und seine Kollegen nun untersuchen, ob die transponierbaren Elemente bei Grönlandhaien anders reguliert werden als bei anderen Arten und ob sie tatsächlich zu einer verbesserten DNA-Reparatur und damit einem langen Leben beigetragen haben. „Unser Genomprojekt bietet nun eine Grundlage für viele unabhängige Studien, die uns helfen werden, die Evolution dieser bemerkenswerten Art besser zu verstehen“, unterstreicht Koautor Paolo Domenici vom Nationalen Forschungsrat (CNR – IBF) in Pisa. (bioRxiv, 2024; doi: 10.1101/2024.09.09.611499)
Quelle: Ruhr-Universität Bochum, Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut e.V. (FLI)