Seine Hunde-Experimente machten den russischen Mediziner Ivan Pawlow weltberühmt, denn mit ihnen bewies er das Lernen durch klassische Konditionierung. Dafür kombinierte Pawlow einen eigentlich neutralen Reiz, ein Glockenläuten, immer wieder mit einem zweiten Reiz: der Gabe von Futter. Im Lauf der Zeit lernten seine Hunde, dass die Glocke das Futter ankündigte, und reagierten allein auf das Läuten mit Speichelfluss.
Doch diese Konditionierung hält normalerweise nicht ewig an – sie kann auch ausgelöscht werden. Das passiert beispielsweise, wenn die Glocke zwar immer wieder läutet, aber darauf keine Futtergabe mehr erfolgt. Diese Erfahrungen „überschreiben“ dann gewissermaßen den zuvor gelernten Zusammenhang. Verhaltensbiologen bezeichnen diesen Prozess des Umlernens als Extinktionslernen.
Umlernen bei „schmerzenden“ Dreiecken
Harald Englers Team verfolgt die Hypothese, dass manche Krankheitsbilder mit einem veränderten Extinktionslernen zusammenhängen und dass Entzündungsprozesse das erfolgreiche Umlernen stören können. Gemeinsam mit dem Team der Bochumer Forscherin Sigrid Elsenbruch zeigte seine Gruppe kürzlich einen solchen Effekt bei gesunden Menschen. Diese lernten zunächst, geometrische Formen mit einem Schmerz zu assoziieren. Sie sahen immer wieder Bilder von beispielsweise Dreiecken, Kreisen und Vierecken.
Doch manche dieser Formen, zum Beispiel die Dreiecke, waren mit einem kurzen Schmerzreiz gepaart. Nach der Lernphase bewerteten die Testpersonen die Dreiecke daher negativer als die anderen geometrischen Formen. Am Folgetag fand das Extinktionslernen statt: Nun war keine der geometrischen Formen mehr mit Schmerzen verbunden. Nach dieser Umlernphase sollten die Teilnehmenden nun erneut bewerten, wie negativ sie die verschiedenen Formen empfanden. Dabei erfassten die Forschenden ihre Hirnaktivität mit der funktionellen Magnetresonanztomografie.
Entzündungen behindern die Extinktion
Dabei zeigte sich interessantes: Die Ergebnisse des Extinktionslernens waren abhängig davon, ob die Testpersonen während des Lernens am ersten Tag eine Entzündungsreaktion durchlaufen hatten oder nicht. „Durch Gabe einer sehr niedrigen Dosis eines Bestandteils von Bakterien können wir bei gesunden Personen ganz gefahrlos über einen Zeitraum von einigen Stunden eine Entzündungsreaktion mit einer depressiven Verstimmung auslösen“, erklärt Harald Engler. „Nach 24 Stunden sind die Effekte komplett verflogen.“
Erlernten die die Teilnehmenden den Zusammenhang zwischen geometrischer Form und Schmerzreiz unter dem Einfluss dieser experimentellen Entzündung, beobachteten die Forschenden bei alleiniger Präsentation der geometrischen Form während des Extinktionslernens eine verstärkte Aktivierung im sogenannten Furchtnetzwerk des Gehirns. Außerdem bewerteten die Probandinnen und Probanden anschließend unangekündigte Schmerzreize als wesentlich unangenehmer als Personen, die am ersten Tag nur ein Placebo erhalten hatten.
Fehlende Auslöschung macht Ängste und Schmerzen chronisch
Dies deutet darauf hin, dass Entzündungsprozesse die Gedächtnisspur von schmerzassoziierten Reizen verstärken. „Entzündungen fördern die Verarbeitung negativer Reize und aktivieren Netzwerke der emotionalen Erregung“, erklären Engler und sein Team in ihrer Veröffentlichung dazu (doi: 10.1016/j.bbi.2022.12.010). Dies begünstigt bekanntermaßen das Lernen negativer Zusammenhänge beispielsweise bei Schmerzen.
Das Experiment belegt nun, dass Entzündungen und damit das Immunsystem auch die Hartnäckigkeit solcher Erinnerungen erhöht. „Es macht sie resistenter gegen die Extinktion“, so die Forschenden. „Dieser gestörte Extinktions-Mechanismus kann so anhaltende Angst verursachen und zur Chronifizierung von Symptomen beitragen, beispielsweise bei psychiatrischen Störungen.“
„Wir vermuten, dass dieser Mechanismus auch zur Entstehung von chronischen Schmerzen beitragen könnte“, folgert Engler. Im Tiermodell und bei Menschen mit chronisch entzündlichen Erkrankungen wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese Theorie und die zugrunde liegenden Mechanismen nun weiter untersuchen.