Jahrhundertealte Schreie: Neurowissenschaftler haben den psychologischen Effekt von aztekischen Totenkopfpfeifen untersucht. Deren an menschliche Schreie erinnernde Töne haben auch heute noch eine abschreckende und beängstigende Wirkung auf Zuhörende. Warum das so ist, enthüllen nun Hirnscans. Demnach aktiviert der Pfeifenton anders als normale Geräusche auch Areale im Gehirn, die mit starken negativen Gefühlen verknüpft sind.
Das mesoamerikanische Urvolk der Azteken ist bekannt dafür, seinen Göttern Menschenopfer dargebracht zu haben. Aber auch andere präkolumbische Hochkulturen wie die Maya und Inka opferten regelmäßig Menschen zu Ehren ihrer Götter. Selbst Kinder mussten als Opfergaben sterben. Die Priester schnitten ihnen beispielsweise bei lebendigem Leib den Brustkorb auf und entnahmen ihr Herz oder sie sperrten sie zu Ehren des Regengottes in Käfige ein, brachten sie zum Weinen und töteten sie anschließend.
Schriller Schrei aus der Totenkopfpfeife
Bei den Opferritualen der Azteken kamen spezielle, aus Lehm geformte Pfeifen in Schädelform zum Einsatz, wie archäologische Funde nahelegen. Diese Totenkopfpfeifen erzeugen an schrille Menschenschreie erinnernde Geräusche. „Dies steht im Einklang mit der Tradition vieler alter Kulturen, natürliche Klänge in Musikinstrumenten einzufangen. Die Todespfeifen sollten in Ritualen mythologische Wesen nachahmen“, erklärt Sascha Frühholz von der Universität Zürich.
Doch wie entsteht dieser „Schrei“ der Totenkopfpfeife? Um das zu ermitteln, haben Frühholz und sein Team digitale 3D-Rekonstruktionen von originalen aztekischen Todespfeifen erstellt. Diese Modelle zeigen, dass die Pfeifen eine einzigartige Innenkonstruktion mit zwei gegenüberliegenden Schallkammern besaßen. Diese erzeugten Luftturbulenzen und damit den schrillen Ton. „Wir kennen kein vergleichbares Musikinstrument aus präkolumbischen Kulturen oder aus anderen historischen und zeitgenössischen Kontexten“, sagt Frühholz.
Welche Reaktionen löst die Aztekenpfeife aus?
Wie der schrille Ton der Pfeifen auf Zuhörende wirkt, testeten Frühholz und seine Kollegen anschließend in einem Experiment mit mehreren Testpersonen. Diesen spielten sie Aufnahmen der Töne sowohl von originalen Schädelpfeifen als auch von 3D-Rekonstruktionen vor. Wie die Probanden berichteten, wirkte der Pfeifenton auf sie tatsächlich wie ein menschlicher Schrei und löste Gefühle der Angst und Abwehr aus.
Was dabei im Gehirn der Testpersonen passiert, untersuchten die Forschenden in einem weiteren Test mithilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT). Diese zeichnete die Gehirnaktivität der Probanden auf, während sie die Töne der Aztekenpfeifen und andere Geräusche hörten.
Starke Gefühle und gedankliche Verknüpfungen
Das überraschende Ergebnis: Neben der Hörrinde, die üblicherweise auf Geräusche anschlägt, reagierten auch andere Hirnareale intensiv auf den aztekischen Pfeifenton. Besonders stark reagierten dabei die Regionen des affektiven Nervensystems, wie die Auswertungen ergaben. Diese Areale und Hirnnetzwerke werden vor allem dann aktiv, wenn Reize starke Gefühle wecken. Das könnte erklären, warum der „Schrei“ der Totenkopfpfeife so abstoßend und beängstigend wirkt, wie Frühholz und seine Kollegen berichten.
Das Forschungsteam beobachtete aber auch Aktivitäten in Hirnregionen, die Geräusche mit symbolischer Bedeutung verknüpfen. Dies deutet darauf hin, dass die Töne der Todespfeife bei den Zuhörenden sowohl emotionale und körperliche Reaktionen hervorrufen als auch gedankliche Assoziationen mit Bedeutungen wie Gefahr oder Bedrohung wecken.
Untermalung für Totenzeremonien und Opferriten?
Der genaue Nutzen der Schädelpfeifen ist noch unbekannt, aber es gibt mehrere Theorien: Möglicherweise konnten die Azteken mit dem Ton im Krieg Feinde verjagen oder einschüchtern. Die Schädelform und das Pfeifen könnten aber auch für Mictlantecuhtli, den aztekischen Gott der Unterwelt, oder für Ehecatl, den Gott des Windes, stehen. Eine dritte Hypothese suggeriert eine Verbindung zu der aztekischen Unterwelt Mictlan, in der Verstorbene neun Stufen durchlaufen müssen. In der fünften Stufe weht ein starker Wind, an den der Ton der Aztekenpfeifen erinnern könnte.
Die Möglichkeit, dass die Schädelpfeifen für die Götter Mictlantecuhtli und Ehecatl stehen, schließen die Neurowissenschaftler um Frühholz jedoch aufgrund ihrer Beobachtungen aus. Gleiches gilt für den Einsatz im Krieg: „Angesichts der starken assoziativen und symbolischen Klangwirkung, die höhere kognitive Prozesse erfordert, erscheint eine Nutzung im Krieg eher unwahrscheinlich“, schreibt das Team.
Da die Pfeifen meist an rituellen Begräbnisstätten von Menschenopfern gefunden werden, vermuten die Forschenden stattdessen einen Zusammenhang mit Totenzeremonien und Opferriten. „Leider konnten wir unsere psychologischen und neurowissenschaftlichen Experimente nicht mit Menschen aus alten Aztekenkulturen durchführen. Aber die grundlegenden affektiven Reaktionen auf erschreckende Geräusche sind Menschen aus allen historischen Kontexten gemeinsam“, sagt Frühholz. (Communications Psychology, 2024; doi: 10.1038/s44271-024-00157-7)
Quelle: Universität Zürich