Neurobiologie

Machen Hirnschäden kriminiell?

Schäden am Moral-Netzwerk des Gehirns könnten Neigung zu Straftaten erhöhen

Können uns Hirnschäden zu Straftätern machen? Und sind wir dann für unsere Taten verantwortlich? © Jinga80, Phonlamai/ iStock.com

Verletzte Moral: Wenn jemand kriminell wird, dann könnte ein Schaden in seinem Gehirn daran Mitschuld haben. Diesen bisher umstrittenen Zusammenhang legen nun Hirnscans bei Straftätern nahe. Demnach fördert es die Neigung zu Straftaten, wenn ein für moralisches Verhalten zuständiges Netzwerk geschädigt ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jeder Mensch mit einer solchen Hirnverletzung automatisch kriminell wird, wie die Forscher betonen.

Was macht einen Menschen kriminell? Und welche Rolle spielen neurologische Schäden oder Anomalien für unser moralisches Verhalten? Immer wieder gibt es Fälle, bei denen Hirnverletzungen die Ursache für kriminelle oder gewalttätige Handlungen zu sein scheinen. So wurde der US-Amerikaner Phineas Gage zum Soziopathen, nachdem ein Eisenbolzen den Frontallappen seines Gehirns durchbohrt hatte.

Ein noch krasseres Beispiel ist der Mörder Charles Whitman, der 16 Menschen tötete und 31 verletzte. Als Mediziner seinen Schädel untersuchten, fanden sie einen großen Hirntumor in seinem rechten Scheitellappen. Hatte er Whitman zu seinen Gewalttaten getrieben? Bisherige Studien kamen in dieser Frage zu keinen eindeutigen Ergebnissen – auch weil die bei einigen Kriminellen festgestellten Schäden in ganz verschiedenen Hirnbereichen lagen.

17 Straftätern ins Gehirn geschaut

Auf der Suche nach einem Zusammenhang haben nun Ryan Darby von der Harvard Medical School in Boston und seine Kollegen 17 Fälle untersucht, bei denen zuvor unbescholtene Menschen nach einer Hirnverletzung kriminell wurden. „Die meisten dieser Patienten haben Gewalttaten wie Mord, Körperverletzung oder Vergewaltigung begangen“, berichten sie.

Die Forscher untersuchten, wo die Hirnschäden bei diesen Patienten lagen und analysierten dabei erstmals auch, welche Hirnnetzwerke dadurch betroffen waren. Aus Scans der Hirnaktivität ist bekannt, dass bestimmte Hirnareale funktionell miteinander verknüpft sind – sie arbeiten bei bestimmten Aufgaben zusammen, selbst wenn sie räumlich relativ weit voneinander entfernt liegen. Nach einer ähnlichen Verknüpfung suchten die Wissenschaftler nun auch bei den kriminellen Patienten.

Auf den ersten Blick völlig unterschiedlich: Die Hirnläsionen der 17 Strafttäter. © PNAS

Andere Areale, aber gleiches Netzwerk

Und tatsächlich: Auf den ersten Blick schienen die Hirnschäden der 17 Täter zwar in sehr unterschiedlichen Arealen zu liegen. Doch die Netzwerkanalyse enthüllte, dass sie alle zum gleichen funktionellen Netzwerk gehörten. „Wir haben festgestellt, dass dieses Netzwerk bei gesunden Menschen an moralischen Entscheidungen beteiligt ist“, erklärt Darby.

Nähere Analysen ergaben, dass an diesem Netzwerk Hirnareale im präfrontalen Cortex, den vorderen Schläfenlappen und dem Belohnungszentrum des Gehirns im Nucleus accumbens beteiligt sind. „Die mit kriminellem Verhalten assoziierten Läsionen sind damit funktionell mit Regionen verknüpft, die für wertebasierte Entscheidungen und das sich Hineinversetzen in andere Menschen zuständig sind – nicht aber mit Empathie und kognitiver Kontrolle“, berichten die Forscher.

Eine Überprüfung bei 23 weiteren Neurologie-Patienten mit krimineller Geschichte enthüllte, dass auch bei diesen das gleiche Hirnnetzwerk betroffen war.

Kein unausweichliches Schicksal

Was aber bedeutet dies für die Praxis der Strafverfolgung und für die Justiz? „Unsere Ergebnisse können helfen zu verstehen, wie Störungen der Hirnfunktion zu kriminellem Verhalten beitragen können“, sagt Darby. „Aber es wichtig, diese Erkenntnisse nicht überzubewerten, wenn es um die Vorhersage kriminellen Verhaltens geht.“

Denn wie die Forscher betonen, tragen unzählige weitere Faktoren dazu bei, dass Menschen kriminell oder gewalttätig werden – darunter Genetik, frühkindliche Erfahrungen und Persönlichkeitsmerkmale. „Solche Hirnläsionen können daher das Risiko für kriminelles Verhalten erhöhen, aber sie sollten nicht als unausweichliche oder einzige Ursache dafür interpretiert werden“, konstatieren die Wissenschaftler.

Schuldfrage weiterhin offen

Ähnlich komplex sei die Einschätzung der Schuldfähigkeit in solchen Fällen: „Die bloße Präsenz einer Hirnläsion verrät uns noch nicht, ob wir deshalb denjenigen für sein Verhalten verantwortlich machen können oder nicht“, so Darby. „Das ist eine Frage, die letztlich die Gesellschaft entscheiden muss.“

Tatsächlich kann man inzwischen zwar per Hirnscan feststellen, ob ein Täter bloß fahrlässig handelt oder wissentlich gegen Regeln verstößt. Aber dies geht nur im Moment der Tat und nicht im Nachhinein. Über die Verantwortlichkeit und rechtlichen Konsequenzen einer Tat müssen daher vorerst die Gerichte wie bisher anhand des Gesamtkontextes entscheiden – und das ist vermutlich ganz gut so. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2017; doi: 10.1073/pnas.1706587115)

(Beth Israel Deaconess Medical Center, 19.12.2017 – NPO)

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